Königsteiner Schlüssel So könnte eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge aussehen

Asylsuchende werden aktuell nach einer jahrzehntealten Regelung auf die Bundesländer verteilt. Doch das System schafft in der Krise neue Probleme. Eine gerechtere Lösung wäre möglich - wenn man die Folgen bedenkt.
Von Maximilian Gerl, Anna Reimann und Frank Kalinowski
Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Flughafen Tempelhof

Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Flughafen Tempelhof

Foto: FABRIZIO BENSCH/ REUTERS

Dorthin, wo in Deutschland die meisten Menschen wohnen und wo am meisten Steuern gezahlt werden - da kommen auch die meisten Flüchtlinge hin.

So sieht es der Königsteiner Schlüssel vor, eine Quote, die ursprünglich zurückgeht auf ein Staatsabkommen von 1949 zur Finanzierung von Forschungseinrichtungen und auch zur Verteilung von Asylsuchenden auf die Bundesländer genutzt wird. (Lesen Sie mehr zum Königsteiner Schlüssel in unserem Erklärformat "Endlich verständlich".)

Im Detail heißt das: Die Steuereinnahmen - zu zwei Dritteln - und die Bevölkerungszahl - zu einem Drittel - bestimmen, welches Bundesland wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll. Die genauen Quoten werden jährlich neu berechnet.

Mehr als eine Million Asylsuchende haben die deutschen Behörden im vergangenen Jahr gezählt - im Spätsommer ging die Zahl der Flüchtlinge rasant nach oben. Sie alle mussten untergebracht und versorgt werden. Angespannt ist die Lage fast überall. In vielen Städten und Gemeinden gibt es nicht genug geeignete Unterkünfte.

Aber es gibt Bundesländer, in denen - das kann man so pauschal sagen - die Situation besonders schwierig ist: in den Stadtstaaten. Es fehlt dort schlicht an Wohnraum und Grundstücken, auf denen neue Wohnungen gebaut werden können. Aber genau diese Platznot spielt für die Verteilung der Flüchtlinge auf die Bundesländer bisher keine Rolle.

In konkreten Zahlen bedeutete das für das vergangene Jahr: Von den 1.091.894 Asylsuchenden, die 2015 in Deutschland registriert wurden, mussten Berlin, Hamburg und Bremen zusammen etwa 8,5 Prozent - knapp 93.000 Menschen - aufnehmen, obwohl alle drei Länder zusammen nur rund 0,6 Prozent der Fläche Deutschlands haben. Ein anderes Beispiel: Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern müssen nach dem bestehenden Königsteiner Schlüssel ungefähr gleich viele Flüchtlinge aufnehmen. Mecklenburg-Vorpommern ist aber mehr als 30-mal so groß wie Hamburg.

"Der Königsteiner Schlüssel richtet sich nur danach, wie groß die Leistungsfähigkeit eines Bundeslandes ist, aber die Aufnahmekapazität, etwa der verfügbare Wohnraum spielt überhaupt keine Rolle", kritisiert der Wissenschaftler Wido Geis vom Institut der Deutschen Wirtschaft IW, das jüngst für die Robert Bosch Stiftung ein Gutachten veröffentlicht  hat.

Eine Folge davon ist: In Berlin, Hamburg und Bremen müssen besonders viele Flüchtlinge in Notunterkünften ohne Privatsphäre leben, etwa in Hallen oder Zelten. Das ist das Ergebnis einer großen Umfrage von SPIEGEL ONLINE zur Unterbringung von Flüchtlingen in allen Bundesländern. Diese Art der Beherbergung schürt zwangsläufig Konflikte unter den dort lebenden Flüchtlingen.

Aber wie würde sich die Verteilung ändern, wenn auch Fläche und Wohnraum dabei berücksichtigt würden? Welche Bundesländer müssten mehr Flüchtlinge aufnehmen, welche weniger?

Wir haben das ausgerechnet - der Einfachhalt halber haben wir die Quadratkilometerzahl der Bundesländer genommen. Unsere Berechnung setzt sich zu je einem Drittel aus der Fläche, der Bevölkerungszahl und der Höhe der Steuereinnahmen eines Landes im Jahr 2014 zusammen.

Was sind die zentralen Ergebnisse der neuen Quote?

  • Nur Sachsen müsste fast genauso viele Flüchtlinge aufnehmen wie zuvor.
  • Vor allem die Stadtstaaten und Nordrhein-Westfalen müssten weniger Flüchtlinge unterbringen.
  • Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen müssten dagegen deutlich mehr Menschen aufnehmen - weil sie vergleichsweise groß sind, aber wenige Einwohner und niedrige Steuereinnahmen haben.

Eine Einschränkung gibt es hier: Land ist nicht immer komplett zu nutzen, etwa weil es Naturschutzgebiete gibt. Aber auch Daten zu verfügbarem Wohnraum in deutschen Regionen bestätigen den Trend unserer Rechnung: Und laut dem Wirtschaftsinstitut Prognos wird der Wohnungsmarkt bis 2030 noch stärker auseinanderdriften.

In den Metropolregionen wie München, Berlin, Rhein-Main oder Stuttgart wird es für die Menschen noch schwieriger, eine bezahlbare Bleibe zu finden. In den Regionen Vorpommern, Südsachsen oder Halle (Saale) werden dagegen noch mehr Häuser leer stehen. Verschärfend für die Wohnsituation in Metropolregionen kommt hinzu, dass genau hierher auch der Großteil der anerkannten Asylbewerber zieht, sobald ihr Verfahren abgeschlossen ist - und damit der Druck auf den Wohnungsmarkt noch weiter erhöht wird.

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Daten der Bundesagentur für Arbeit: Wohin Flüchtlinge ziehen

Foto: SPIEGEL ONLINE; Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Eine neue Quote würde aber auch bedeuten: Die klammen ostdeutschen Länder müssten finanziell mehr leisten. Hannes Schammann, Migrationsexperte von der Universität Hildesheim, fordert deshalb: Wenn die Fläche eines Bundeslandes bei der Verteilung von Flüchtlingen ein zusätzlicher Faktor neben Steueraufkommen und Bevölkerungszahl sein soll, "müssten die dann stärker betroffenen Bundesländer von den anderen Ländern oder vom Bund für ihre Mehrleistung kompensiert werden".

Ähnlich wie es in der Diskussion um eine Wohnsitzauflage für anerkannte Asylbewerber (hier mehr dazu) gefordert wurde, müsste eine neue Verteilung von Flüchtlingen in ländliche Regionen noch an andere Hilfen geknüpft sein. "Das Problem ist: In den Städten ist zwar der Wohnraum knapp, aber es gibt dort oft eine gute Infrastruktur für Integration", so Wissenschaftler Schammann.

Es müsste also bei einem neuen Verteilsystem gezielt vor Ort in Beratungsangebote und Jobs investiert werden. Denn so problematisch es ist, wenn Flüchtlinge - wie oft in den Stadtstaaten - monatelang in Turnhallen leben, so schwierig ist es, sich hierzulande einzufinden, wenn man auf dem Land in einem eigenen, großen Zimmer, aber ohne Arbeitsmöglichkeit und Anschluss an die dort lebenden Menschen wohnt.

Und: Auch das Problem, dass in manchen Gebieten im Osten die Bevölkerung besonders ablehnend gegenüber Flüchtlingen ist, muss gesehen und angegangen werden. Mit Integrationsoffensiven auch gegenüber der einheimischen Bevölkerung.

All das zeigt: Eine optimale Lösung bei der Verteilung für Flüchtlinge ist schwierig. Während Wohnraum in den Großstädten aber irgendwann faktisch nicht mehr zu schaffen ist, gibt es bei der Förderung der ländlichen Regionen mehr Flexibilität - und Luft nach oben.

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