Jakob Augstein

Angela Merkels Flüchtlingspolitik Wir sind geschafft

Mit der Grenzöffnung für Flüchtlinge hat Angela Merkel Geschichte geschrieben. Aber Geschichte macht müde. Auf die Weltinnenpolitik der Kanzlerin sind die Deutschen schlecht vorbereitet.

Im vergangenen Jahr gehörte Angela Merkel zu den Favoriten für den Friedensnobelpreis. Sie hat ihn dann nicht erhalten. Das Komitee in Oslo entschied sich nicht für die deutsche Kanzlerin, die Hunderttausenden von Flüchtlingen Schutz geboten hatte, sondern für ein zivilgesellschaftliches Bündnis aus Tunesien. Vielleicht besser so.

Zumindest in Deutschland hat Merkels Flüchtlingspolitik alles andere als Frieden gestiftet. Das Land ist tief gespalten. Die Deutschen sind erschöpft. Dass man in ihrem Namen Weltinnenpolitik betreibt, ist ihnen neu. Niemand hatte sie darauf vorbereitet. Auch die Kanzlerin nicht.

"Was auf der Welt los ist, geht alle an", hat Merkel gerade gesagt. Das weist in die Richtung der Worte, die Willy Brandt 1980 in der Einleitung zum Nord-Süd-Bericht schrieb: "Die Globalisierung von Gefahren und Herausforderungen - Krieg, Chaos, Selbstzerstörung - erfordert eine Art 'Weltinnenpolitik'." Es blieb Brandt erspart, diese Politik auszuprobieren. Er ist darum bis heute der Held des guten Gewissens - und übrigens auch der bislang letzte Deutsche mit Friedensnobelpreis. Merkel hatte nicht so viel Glück. Sie musste sich entscheiden. Die Option, nichts zu tun, gab es Anfang September 2015 nicht mehr. Die hatte die Politik in den Jahren zuvor bereits ausgeschöpft.

Merkels Entscheidung wird jetzt schon historisch genannt. Wer weiß, ob kommende Generationen das so sehen. Aber einen Platz im Geschichtsbuch verdient sie allemal - und zwar als Fallbeispiel für Versagen und Gelingen von Politik gleichermaßen. Wer sich für Steuerungsfähigkeit und Gestaltungswillen in der Gegenwart interessiert, dem kann die Krise der deutschen Flüchtlingspolitik eine Lehre sein. Denn all diese Menschen, die standen ja nicht unerwartet vor der deutschen Tür.

Die Deutschen waren die größten Profiteure einer aberwitzigen und unernsthaften Asylpolitik - Stichwort "Dublin" - durch die alle Lasten der Migrationsströme vom wohlhabenden europäischen Zentrum in die ärmere Peripherie verschoben wurden. Aber, sagt da die Kanzlerin, es gebe nun einmal politische Themen, "die man kommen sieht, die aber im Erleben der Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht angekommen sind".

Ein Achselzucken, mehr nicht? Als gehöre es nicht auch zu den Aufgaben der Politik, den Leuten die kommenden Dinge zu zeigen. Jeder hat ein Recht auf Schläfrigkeit. Die Kanzlerin nicht. Aber es gehört zu den Schwächen gerade der besonders erfolgreichen Politiker, eine Expertise fürs Nichtstun zu entwickeln. Und Merkel war ohnehin die Fachfrau für vollendete Formlosigkeit. Bis die Flüchtlinge sie zu einer grundlegenden Wende zwangen.

Mischung aus seelischer Verhärtung und moralischer Verbitterung

Seitdem geht es drunter und drüber im Land. Die Migration wurde zum wichtigsten Thema. Und je nachdem, wie einer dazu steht, findet er sich plötzlich in ungewohnter Gesellschaft. Ob jemand von der allgemeinen Furcht vor dem Fremden erfasst wird und von der besonderen Verachtung für den Islam, entscheidet sich nach allem Möglichen - nur nicht nach alten parteipolitischen Präferenzen. Es war zu erwarten, dass wir dabei erst einmal mehr über uns selbst lernen als über die Neuankömmlinge.

Besonders unangenehm war es zu erleben, wie bei vielen der materielle Überfluss und die empathische Armut zu einer dekadenten Mischung aus seelischer Verhärtung und moralischer Verbitterung geronnen. Man erinnere sich an die 34 CDU-Funktionäre, die im vergangenen Herbst in einem offenen Brief schrieben, die "Politik der offenen Grenzen" stehe nicht "im Einklang mit dem Programm der CDU".

Oder man denke an Alice Schwarzer, die jüngst mit Blick auf die vielen klatschenden Helfer am Münchner Bahnhof gesagt hat: "Es ging mehr um sie selbst als um die Flüchtlinge. Ein Hauch von Kitsch wehte mich an." So sehen hilflose Versuche aus, sich die Gegenwart vom Leib zu halten.

Es ist diese Gegenwart, mit der Merkels Gegner hadern. Die Kanzlerin, so schreibt es Berthold Kohler in der "FAZ", glaube schlicht nicht daran, "dass sich das reiche und friedliche Europa im Zeitalter globaler Krisen und Wanderungsbewegungen hinter Mauern und Zäunen verschanzen kann". Merkels Gegner glauben immer noch an die Macht von Mauern und Zäunen. Erstaunlich viele Menschen aber sind im vergangenen Jahr mit der Kanzlerin gegangen, die vielleicht aus der deutschen Geschichte die Lehre gezogen hat, dass keine Mauer am Ende halten wird.

"Wir schaffen das" hat Angela Merkal am 31. August 2015 gesagt. Die Kollegen der ARD haben gerade gemeldet, dass Sigmar Gabriel dasselbe schon am 22. August gesagt hatte. Ihm hat man den Satz nicht zugerechnet. Es wurde stattdessen ihr berühmtester. Ob die Deutschen "das" auch schaffen wollen, hat Merkel nicht gefragt. Sie ist damit die radikale Realistin geblieben, die sie immer war.

Wir schaffen das? Vielleicht. Aber wir sind auch geschafft.

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Foto: SPIEGEL ONLINE
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