Angela Merkel in der Türkei Hilfst du mir, so helf ich dir

Angela Merkel in der Türkei: Hilfst du mir, so helf ich dir
Foto: Turkish President's Press Office/ dpaKaum denkbar wäre eine solche Reise in normalen Zeiten. Nur zwei Wochen vor der türkischen Parlamentswahl hat Angela Merkel an diesem Sonntag Istanbul besucht, um sich mit Premier Ahmet Davutoglu und Präsident Recep Tayyip Erdogan zu treffen. Mehr Geld, Visa-Erleichterungen, neuer Schwung für die EU-Beitrittsverhandlungen - all das stellte Merkel der Türkei in Aussicht.
Wie gesagt, noch vor Kurzem kaum denkbar. Aber die Zeiten, sie sind nicht normal. Es ist Flüchtlingskrise, man braucht die Türkei.
Die Kanzlerin gerät zunehmend unter Handlungsdruck. Für den Zeitraum vom 5. September bis zum 15. Oktober meldeten die 16 deutschen Bundesländer insgesamt 409.000 Neuankömmlinge ans Bundesinnenministerium. Bis zu 10.000 Flüchtlinge überschreiten täglich die Grenze nach Bayern.
Kanzlerin als Bittstellerin?
Diese Zahlen, das weiß Merkel, müssen so schnell wie möglich kleiner werden, sonst sind die deutschen Städte und Gemeinden heillos überfordert. Schon naht der Winter, und noch immer leben Tausende in Zelten. Auch politisch wächst der Handlungsdruck auf Merkel. In der Unionsfraktion grummelt es vernehmlich. Gerade hat die Junge Union eine Obergrenze für die Zahl der Zuwanderer gefordert - die Kanzlerin aber will davon nichts wissen.
Das ist die Situation, in der der Türkei eine Schlüsselrolle in dieser Krise zukommt. Mehr als zwei Millionen Menschen leben derzeit in türkischen Flüchtlingslagern, vor allem Syrer, aber auch Afghanen, Iraker, Iraner. Die Türkei hat damit mehr Menschen aufgenommen als die gesamte EU und nach eigenen Angaben bisher sieben Milliarden Euro für deren Unterbringung ausgegeben. Rund eine halbe Million Flüchtlinge sind in diesem Jahr bereits nach Europa weitergezogen.

Merkels Türkei-Besuch: Bittstellerin am Bosporus
Wenn die Kanzlerin die hohen Zuwanderungszahlen begrenzen will - und das will sie -, dann muss sie also bei der Türkei ansetzen. O-Ton Merkel: "Europa kann seine Außengrenze nicht allein schützen, wenn wir nicht auch ein Abkommen mit der Türkei schließen."
Dafür nimmt sie in Kauf, dass Erdogan und Co. jetzt politisches Oberwasser haben. Die Zugeständnisse der Europäer werden sie mit ihrer islamisch-konservativen AKP im Wahlkampf zu nutzen wissen. Erdogan spekuliert auf eine verfassungsändernde Mehrheit von 400 der 550 Mandate, um ein Präsidialsystem einzuführen und seine Macht auszubauen.
"Vor zwei Jahren hätte ich nicht geglaubt, vor einem ebenso wenig, dass die Kanzlerin als Bittstellerin, mit konkreten Gegenleistungen nach Ankara fliegen muss", meint EU-Kommissar und Parteifreund Günther Oettinger. Auch wenn Merkel nicht nach Ankara, sondern nach Istanbul flog - mit seiner Analyse liegt Oettinger natürlich nicht ganz falsch.
Das, was Merkel in Istanbul wünscht und im Gegenzug anbietet, beruht maßgeblich auf dem sogenannten Aktionsplan, auf den sich die Staats- und Regierungschefs der EU in der vergangenen Woche geeinigt hatten. Konkret sieht das so aus:
- Merkel stellt eine fairere "Lastenteilung" in Aussicht, heißt: mehr EU-Geld. Damit sollen die Türken die Situation in ihren Flüchtlingslagern verbessern, auch um Anreize für eine Flucht nach Europa zu vermindern. Eine genaue Summe wurde nicht genannt. Die Türkei hatte drei Milliarden Euro gefordert, doch so viel wird es wohl nicht werden. Merkel sagte nach dem Treffen mit Premier Davutoglu nur: "Die Türkei möchte zusätzliches Geld, und das verstehe ich auch."
- Bisher benötigen türkische Bürger ein Visum, um in den Schengenraum einzureisen. Seit zwei Jahren bereits verhandelt die Türkei mit der EU über eine Visa-Liberalisierung. Merkel bot nun an, "den beschleunigten Visaprozess zu unterstützen". Die Türken hoffen auf die visafreie Einreise ab Sommer 2016.
- "Im Gegenzug" erwarte die EU die schnellere Einführung des Rückübernahme-Abkommens für Angehörige von Drittstaaten. Was Merkel meint: Die Türkei soll von ihrem Gebiet aus illegal in die EU Eingereiste wieder aufnehmen. Dieses bereits verhandelte Abkommen soll nun schneller in Kraft treten als bislang geplant, voraussichtlich im Juli 2016. Diese Rückübernahme allerdings gilt nicht für tatsächlich schutzbedürftige Flüchtlinge nach den Bestimmungen der Genfer Konvention.
- Wäre das gewollt, müsste die EU die Türkei zum "sicheren Herkunftsstaat" erklären. Damit würde man aber auch konstatieren, dass es in der Türkei keine politische Verfolgung gibt. Tatsächlich werden europäischen Statistiken zufolge bislang 23 Prozent der Asylanträge aus der Türkei in der EU positiv beschieden. Erdogan wünscht sich den Status als sicherer Herkunftsstaat wegen der damit verbundenen politischen Aufwertung, Merkel erwähnte die Sache in Istanbul nicht direkt, sagte später: "Ich habe deutlich gemacht, dass man darüber sprechen kann."
- Die Kanzlerin thematisierte den von Erdogan angeheizten Konflikt mit den Kurden: Deutschland wünsche sich, dass nach den türkischen Wahlen "die Frage der Versöhnung mit den Kurden" wieder auf die Agenda komme.
- Merkel stellte - trotz ihrer ablehnenden Haltung als CDU-Vorsitzende - neue Dynamik für die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei in Aussicht.
Unklar ist, inwieweit das Schlüsselland Türkei letztlich wirklich auf die Flüchtlinge einwirken will - und kann. Bislang hat das Land zum Beispiel die Syrer stets als "Gäste" gesehen, die irgendwann in ihre Heimat zurückkehren. Doch ein Ende der Gewalt in Syrien ist nicht absehbar. In der Türkei wollen die meisten Syrer nicht bleiben, weil sie dort nicht arbeiten dürfen. Viele suchen sich also illegal einen Job, arbeiten für sehr wenig Geld als Kellner, Verkäufer oder Putzkraft.
Merkels Plan, die Türkei mit Geld für neue Unterkünfte zu unterstürzen, dürfte den Strom der Flüchtlinge Richtung Europa nur wenig bremsen, auch wenn viele Syrer in der Türkei in heruntergekommenen Wohnungen leben, in Bauruinen, viele auch auf der Straße oder in Parks. Aber gut ausgebildete Syrer bis hin zu Ärzten, Ingenieuren, Anwälten und Professoren, die sich in der Türkei eine Wohnung oder ein Hotelzimmer leisten können, wollen trotzdem in den Westen, weil sie hoffen, dort irgendwann ihren Beruf ausüben zu können.
Zusammengefasst: Weil die Türkei eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise spielt, ist Angela Merkel zu Zugeständnissen bereit. Während ihres Besuchs in Istanbul stellte sie Reiseerleichterungen für türkische Bürger, mehr Geld für Flüchtlingslager, und neue Dynamik in den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei in Aussicht. Die politische Aufwertung des islamisch-konservativen Präsidenten Erdogan während des türkischen Wahlkampfs nimmt sie dafür in Kauf.