Neue Flüchtlingszahlen Die Millionen-Prognose

1,5 Millionen Flüchtlinge sollen Deutschland in diesem Jahr erreichen. Das steht angeblich in einem Geheimpapier deutscher Behörden. Ist die Schätzung seriös?
Neue Flüchtlingszahlen: Die Millionen-Prognose

Neue Flüchtlingszahlen: Die Millionen-Prognose

Foto: Michael Kappeler/ dpa

Auf Schätzungen von Flüchtlingszahlen sollte man sich besser nicht verlassen. Das ist die Lektion der vergangenen Monate. Ende August erklärte die Bundesregierung, dass sie für das laufende Jahr bis zu 800.000 Asylbewerber in Deutschland erwarte. Wenig später gingen Politiker wie SPD-Chef Sigmar Gabriel schon von einer Million Flüchtlinge aus.

Vergangenes Wochenende sprach der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lorenz Caffier (CDU), dann von "1,2 bis 1,5 Millionen Flüchtlingen" im Jahr 2015. Und seit heute kursiert die Prognose einer von der "Bild"-Zeitung nicht näher genannten Behörde, die insgesamt bis zu 1,5 Millionen Asylbewerber für möglich hält. Das wären siebenmal mehr Schutzsuchende in Deutschland als 2014.

Wie plausibel ist die neue Zahl?

Die Bundesregierung bestätigt die 1,5-Millionen-Schätzung nicht. Der sprunghafte Anstieg der vergangenen Wochen sei nicht repräsentativ für den Rest des Jahres, sagte ein Sprecher von Innenminister Thomas de Maizière. "Wir gehen noch davon aus, dass die Wintermonate dazu führen werden, dass sich der Migrationsdruck verringern wird."

Genau dieser Winter-Effekt wird in der angeblich als vertraulich eingestuften Prognose, auf die sich die "Bild"-Zeitung bezieht, angezweifelt. Demnach werde im letzten Quartal 2015 mit der Ankunft von bis zu 920.000 Flüchtlingen gerechnet. Zusammen mit den bislang 573.000 registrierten Flüchtlingen für 2015 käme man auf 1,5 Millionen Menschen.

Die Grünen-Flüchtlingsexpertin Luise Amtsberg wäre von solchen Zahlen nicht überrascht - auch wenn sie sich nicht auf 1,5 Millionen festlegen würde. "In Anbetracht der derzeitigen Sicherheitslage in mehreren Krisenregionen halte ich höhere Flüchtlingszahlen für sehr wahrscheinlich", sagt sie. Die Situation in Syrien, Afghanistan, im Irak und nicht zuletzt in den Flüchtlingscamps der Nachbarländer von Krisenstaaten könne dazu beitragen, "dass sich weitaus mehr Menschen aus guten Gründen zu uns auf den Weg machen".

Die Grünen-Abgeordnete forderte die Bundesregierung auf, "sich endlich ehrlich zu machen". So schwierig seriöse Prognosen auch seien: "Anstatt das Verhalten von Bürgerkriegsflüchtlingen populistisch zu kritisieren, sollte de Maizière zugeben, dass er die Lage von Anfang an völlig falsch eingeschätzt hat."

Wie viele Flüchtlinge sind bereits hier?

Nicht nur die Vorhersagen der Flüchtlingszahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Tatsächlich scheitert Deutschland schon an einer verlässlichen und transparenten Zählung der aktuell hier befindlichen Flüchtlinge.

Herr der Zahlen ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Behörde registriert Neuankommende im Computersystem "Easy".

  • Dort wurden bis Ende August 413.000 Personen verzeichnet.
  • Im September kamen laut Nachrichtenagentur dpa 160.000 Easy-Neuzugänge dazu - so viele wie in keinem Monat zuvor und 56.000 mehr als im August. Das Innenministerium will dazu in den nächsten Tagen detaillierte Angaben machen.
  • Alles in allem käme man demnach auf 573.000 offiziell registrierte Flüchtlinge für dieses Jahr.

Davon unterscheiden muss man die Zahl der Asyl-Erstanträge, rund 231.000 davon wurden in Deutschland bis Ende August gestellt. Auch hier prüft das Innenministerium gerade neue Zahlen des BAMF und will sie in den nächsten Tagen veröffentlichen.

Seriöse Angaben werden durch eine hohe Dunkelziffer erschwert. Nach BAMF-Schätzungen sollen gut 290.000 Menschen in Deutschland sein, die noch nicht registriert wurden. Viele Neuankömmlinge haben zudem keinen Pass dabei, was eine schnelle Registrierung erschwert.

Warum ist die Situation so unübersichtlich?

Es gibt keinen guten Überblick darüber, wie viele Menschen derzeit nach Deutschland kommen, wie sie verteilt werden und wo sie ihre Asylanträge stellen. Das räumt BAMF-Chef Frank-Jürgen Weise ein. Er spricht von teils chaotischen Zuständen in den Erstaufnahmestellen.

Beispiel September: Ein vertraulicher Lagebericht der Bundespolizei meldete "für den Zeitraum vom 5. September bis 1. Oktober 2015, 5 Uhr, die Gesamtzahl von 273.812 erfassten Flüchtlingen" - also weitaus mehr als die offiziell 160.000 "Easy"-Registrierten.

Doch die Zahlen der Bundespolizei sind irreführend. Es gibt erhebliche Unsicherheit, ob einige Flüchtlinge nicht doppelt gezählt wurden. Zum Beispiel zunächst von der Bundespolizei in Bayern, später dann auf der Weiterreise noch einmal in einem anderen Bundesland.

Zudem erfassen die Grenzschützer nur einen Bruchteil der Menschen, die sie aufgreifen. Viele werden einfach weitergeschickt. Viele Migranten reisen wohl auch illegal nach Deutschland ein und werden von der Polizei gar nicht entdeckt.

Aussagekräftiger ist daher die Zahl derer, die Asyl beantragen. Doch die gibt es immer nur mit erheblicher Zeitverzögerung. Bis Neuankömmlinge offiziell Asyl beantragen, vergehen mitunter mehrere Wochen oder Monate. Vor allem aber mündet nicht jede Registrierung bei "Easy" in einen Antrag. Einige Flüchtlinge werden mehrfach erfasst oder verlassen das Land wieder.

Warum sind Flüchtlingszahlen so heikel?

Prognosen können hilfreich sein, weil sich Flüchtlingszahlen auf den Verteilungsschlüssel der Bundesländer auswirken. Kommunen können sich besser darauf einstellen, was sie erwartet.

Allerdings wirft gerade niemand gern mit neuen Zahlen um sich, auch die zuständigen Bundesministerien halten sich zurück. Auf die Nachfrage etwa, wie viele Flüchtlinge derzeit auf dem Weg nach Deutschland sind, bekommt man keine Antwort.

Denn jede Zahl ist derzeit ein Politikum, jeder prognostizierte Anstieg sorgt für neue Diskussionen - über umstrittene Transitzonen, den Familiennachzug von Asylbewerbern, Zuwanderungsgrenzen, Einschränkungen des Asylrechts oder einen Aufnahmestopp.

Die Kanzlerin möchte eigentlich etwas Ruhe in die Flüchtlingsdebatte bringen. Gerade hat die Bundesregierung ein Asylpaket verabschiedet, das den Zuzug regulieren soll. Am Wochenende bekräftigte Angela Merkel das Grundrecht auf Asyl.


Zusammengefasst: Laut einem Zeitungsbericht gehen Behörden von 1,5 Millionen Flüchtlingen in diesem Jahr aus. Die Bundesregierung bestätigt die angeblich geheime Schätzung nicht. Tatsächlich haben sich alte Prognosen überholt, und im September kamen mehr Flüchtlinge nach Deutschland als in den Vormonaten. Allerdings sind konkrete Vorhersagen mit Vorsicht zu genießen - weil es nicht einmal über den Status quo belastbare Informationen gibt.

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Mitarbeit: Anna Reimann, Jörg Diehl
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