Streit um Erziehungsprämie So fragwürdig ist das Betreuungsgeld

Frau mit Kind: Fakten sprechen gegen das Betreuungsgeld
Foto: DPAHamburg/Berlin - Das Ringen ums Betreuungsgeld hat etwas Absurdes: Der weitaus größte Teil der Bevölkerung will die Prämie in ihrer geplanten Form nicht. Selbst unter den Anhängern der Regierungskoalition ist das laut einer Umfrage so. Unter den CDU-Abgeordneten gibt es einen Aufstand dagegen, die FDP hat jetzt rechtliche Bedenken angemeldet und droht mit einer Ablehnung im Bundestag.
Und trotzdem hält Kanzlerin Angela Merkel an dem Betreuungsgeld fest, auf Biegen und Brechen. Denn die CSU will nicht vom Koalitionsbeschluss abrücken. Und deshalb soll das Geld ab 2013 an alle Eltern ausgezahlt werden, die ihr Kind nicht in eine Krippe schicken. Den Vorstellungen der Union zufolge soll es zunächst 100 Euro und danach 150 Euro betragen. 400 Millionen Euro hat die Bundesregierung für das Jahr 2013 im Etat für das Betreuungsgeld eingeplant, denn zunächst soll die Leistung nur für Einjährige gelten. 2014 sind dann 1,2 Milliarden vorgesehen für Ein- und Zweijährige.
Längst ist es nicht mehr nur ein Glaubenskampf um das Betreuungsgeld - immer mehr Fakten sprechen gegen die Prämie. Zuletzt haben Forscher ausgerechnet, dass die Maßnahme für den Steuerzahler viel teurer wird als gedacht. Das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) geht davon aus, dass die Kosten jährlich 1,9 Milliarden Euro betragen würden. Denn nach allen vorliegenden Fakten werden mehr Eltern Betreuungsgeld beantragen als erwartet - nicht etwa weil sie gerne zu Hause bleiben wollen, sondern weil es nicht genügend Kita-Plätze gibt. Und Mütter und Väter, die keine Krippe für ihr Kind finden, werden sich die Geldleistung nicht entgehen lassen.
Der Gesetzentwurf ist noch nicht abgestimmt. Es ist unklar, ob auch Hartz-IV-Empfänger oder Eltern, die ihr Kind zu einer Tagesmutter geben, die Prämie erhalten sollen. Das Familienministerium will deshalb nicht sagen, mit wie vielen Eltern, die das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen, es rechnet. Doch aus den genannten Summen lassen sich Rückschlüsse ziehen: Demnach geht das Ministerium von höchstens 330.000 Kindern aus, deren Eltern die Leistung 2013 erhalten. Das entspricht ungefähr der Hälfte der Geburten pro Jahr.
SPIEGEL ONLINE hat neueste Zahlen und Abschätzungen aus den Bundesländern recherchiert. Und die zeigen: Vor allem im Westen hinkt der Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige hinterher.
- In Schleswig-Holstein zum Beispiel fehlen bis 2013 noch 9000 Plätze, um die geplante Quote von 35 Prozent zu erreichen. Das klingt kaum machbar innerhalb eines Jahres. Aber in der Landesregierung setzt man auf Durchhalteparolen. Schließlich habe das Land den Ausbau seit 2009 massiv vorangetrieben.
- Bremen hatte 2011 eine Versorgungsquote von etwa 24 Prozent - inklusive der Kleinkinder, die bei Tagesmüttern betreut wurden. Für 2012 plant das Land ehrgeizig, eine Quote von 39 Prozent und für 2013 eine von 40 Prozent zu erreichen. Im Senat der Hansestadt räumt man ein: "Durch Bauverzögerungen oder andere unvorhersehbare Ereignisse kann es hier immer zu Änderungen kommen."
- Die NRW-Landesregierung erklärte kürzlich, bis zum Sommer dieses Jahres stünden 117.000 Plätze für unter Dreijährige zur Verfügung, davon 84.500 in Kindertageseinrichtungen und 32.600 in der Tagespflege. Damit würden 26 Prozent der Kinder unter drei Jahren betreut werden; im Sommer 2013, wenn der Rechtsanspruch in Kraft treten soll, würden es 32 Prozent sein. Fehlen immer noch viele Plätze. Zumal Experten davon ausgehen, dass besonders in großen Städten der Bedarf an Krippenplätzen viel höher liegt als der veranschlagte Mittelwert von 35 Prozent - im Ballungszentrum Ruhrgebiet könnte die Lage deshalb besonders schwierig werden.
- Auch Hamburg geht davon aus, dass die Stadt bis zum Januar 2013 eine Betreuungsquote für alle drei Jahrgänge im Krippenbereich von etwa 40 Prozent erreichen wird.
- In Bayern stehen laut Sozialministerium zur Zeit für knapp 30 Prozent der Kinder unter drei Jahren Betreuungsplätze zur Verfügung. "Wenn die Kommunen das hohe Ausbautempo halten, werden wir bis Ende 2013 bayernweit 36 Prozent erreicht haben." In einzelnen Großstädten wie München und Nürnberg hingegen bestehe noch großer Nachholbedarf.
Im Osten hingegen sind die meisten Quoten längst erfüllt, in fast allen Bundesländern dort gehen mehr als 50 Prozent der unter Dreijährigen in eine Kita.
- Im Jahr 2011 wurden in Brandenburg 52,7 Prozent der unter Dreijährigen betreut - 2010 waren es 52,15 Prozent. Der Bedarf sei gedeckt, "bis auf einige wenige Boom-Regionen, wo es zu wenige Plätze gibt, Potsdam und die Boom-Region rund um neuen Flughafen Schönefeld", sagt Pressesprecherin Grabley vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport.
- In Mecklenburg-Vorpommern sind 52 Prozent der Kleinkinder in einer Tagesbetreuung. Auch hier ist der Rechtsanspruch laut Sozialministerium erfüllt.
- In der Bundeshauptstadt Berlin liegt der Versorgungsgrad bei den Ein- bis Dreijährigen bei 63 Prozent, bis 2015 rechnet die Hauptstadt für diese Altersgruppe mit einer Betreuungsquote von 70 Prozent.
- In Sachsen-Anhalt gibt es seit Anfang der neunziger Jahre einen Rechtsanspruch auf Betreuung und Förderung für alle Kinder ab der Geburt. Das ist bundesweit einmalig. Momentan werden 56 Prozent der unter Dreijährigen und 80 Prozent der Ein- und Zweijährigen betreut.
- In Thüringen gibt es das, worüber jetzt im Bund gestritten wird, bereits seit 2006. Damals führte die Landesregierung ein sogenanntes Erziehungsgeld ein - eine Leistung für Eltern, die ihre ein- bis zweijährigen Kinder zu Hause behalten. "Es ist nicht davon auszugehen, dass Kinder wegen des Bezugs von Thüringer Erziehungsgeld nicht in eine Kita gehen", heißt es dazu von der Landesregierung.
Forscher kommen zu einem ganz anderen Ergebnis. Die Heidelberger Professorin Christina Gathmann, die eine Studie zum Thüringer Erziehungsgeld mitverfasst hat, sagt: "Die Effekte des Erziehungsgelds in Thüringen für Kinder aus sozial schwachen Familien und die Erwerbsbeteiligung der Frauen sind deutlich negativ." So sei der Anteil der ein- bis zweijährigen Kinder, die ausschließlich zu Hause betreut würden, nach Einführung des Geldes um 20 Prozent gestiegen. In Familien, in denen die Eltern keine Ausbildung hätten, oder bei Alleinerziehenden sei der Anteil sogar noch größer. Wer arm ist, lässt natürlich nicht automatisch seine Kinder verwahrlosen - aber 150 Euro im Monat können eben existentiell sein.
Die Folgen eines bundesweiten Betreuungsgeldes wären vergleichbar, so Wissenschaftlerin Gathmann. "In den ostdeutschen Ländern wird das Ergebnis ähnlich wie in Thüringen sein. In Westdeutschland werden die Folgen etwas abgeschwächter sein. Das durchschnittliche Einkommen liegt hier höher, deshalb ist das Betreuungsgeld weniger verlockend. Außerdem gibt es dort sowieso zu wenig Kita-Plätze. Deshalb werden weniger Eltern, die einen der begehrten Plätze ergattert haben, ihr Kind wegen der Prämie zu Hause lassen." Auch Gathmann geht davon aus, dass der schleppende Kita-Ausbau die Kosten für das Betreuungsgeld weiter in die Höhe treibt.
Katharina Spieß, Wissenschaftlerin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), schrieb bereits in einem Aufsatz zum Betreuungsgeld im vergangenen Herbst: Erfahrungen aus anderen Ländern hätten gezeigt, dass durch Leistungen wie das Betreuungsgeld weniger Mütter arbeiten. "Beinahe jede zweite (...) Teilzeit arbeitende Mutter würde ihre Erwerbsarbeit unterbrechen." Bekannte Folge dieses Verhaltens ist, dass die Frauen anschließend größere Schwierigkeiten haben, dauerhaft wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das Armutsrisiko steigt.
DIW-Forscherin Katharina Wrohlich sagte SPIEGEL ONLINE: Das Betreuungsgeld nehme den Anreiz wieder zurück, den das Elterngeld setzen wollte, gerade für Geringverdiener. Die Regierung fahre damit einen Zickzackkurs.