Steinmeier zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz "Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Yad Vashem: "Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt"
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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Deutschen zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz an ihre Verantwortung für das Eintreten gegen Antisemitismus erinnert und vor einem Rückfall in autoritäre Denkmuster gewarnt.
"Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt", sagte Steinmeier bei seiner Rede in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. "Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten."
Steinmeier sprach auf einer Gedenkveranstaltung vor rund Hundert Holocaustüberlebenden und mehr als 40 Staatsgästen in Yad Vashem, wo er als erster Bundespräsident eine Rede hielt. Mit Gebeten und dem Entzünden einer Fackel sollte dort an die mehr als eine Million Menschen erinnert werden, die in Auschwitz in Gaskammern getötet, erschossen oder durch Zwangsarbeit und Hunger in den Tod getrieben wurden.
"Weil ich dankbar bin für das Wunder der Versöhnung, stehe ich vor Ihnen und wünschte, sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht", sagte Steinmeier. "Ja, wir Deutsche erinnern uns. Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart."
Bundespräsident verweist auf Antisemitismus an Schulen und Anschlag von Halle
Zwar sei die Lage heute eine andere als während des Nationalsozialismus. "Natürlich: Unsere Zeit ist nicht dieselbe Zeit. Es sind nicht dieselben Worte. Es sind nicht dieselben Täter", sagte er. "Aber es ist dasselbe Böse. Und es bleibt die eine Antwort: Nie wieder! Niemals wieder!"
Steinmeier verwies auf jüdische Kinder, die in Deutschland "auf dem Schulhof bespuckt" würden. Er beklagte, dass "unter dem Deckmantel angeblicher Kritik an israelischer Politik kruder Antisemitismus hervorbricht". Und er erwähnte den Synagogen-Anschlag von Halle , wo nur eine schwere Holztür verhindert habe, "dass ein Rechtsterrorist an Jom Kippur ein Blutbad anrichtet".
"Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit", sagte der Bundespräsident.
Deutschland müsse seiner "historischen Verantwortung" gerecht werden. Diese laute: "Wir bekämpfen den Antisemitismus. Wir trotzen dem Gift des Nationalismus. Wir schützen jüdisches Leben. Wir stehen an der Seite Israels." Die "deutsche Verantwortung vergeht nicht", sagte er vor den Gästen in der Gedenkstätte. "Ihr wollen wir gerecht werden. An ihr sollt Ihr uns messen."
Steinmeier zeigte sich dankbar für die Einladung nach Yad Vashem. "75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz stehe ich als deutscher Präsident vor Ihnen allen, beladen mit großer historischer Schuld", sagte er. "Welche Gnade, welches Geschenk, dass ich heute hier in Yad Vashem zu Ihnen sprechen darf."
Außerdem erneuerte Steinmeier das Bekenntnis zur Schuld der Deutschen: "Die Täter waren Menschen. Sie waren Deutsche. Die Mörder, die Wachleute, die Helfershelfer, die Mitläufer: Sie waren Deutsche". "Der industrielle Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte - es wurde von meinen Landsleuten begangen", sagte der Bundespräsident.
An die internationale Gemeinschaft richtete Steinmeier einen Appell: "Im Erschrecken vor Auschwitz hat die Welt schon einmal Lehren gezogen und eine Friedensordnung errichtet, erbaut auf Menschenrechten und Völkerrecht." Deutschland stehe zu dieser Verantwortung, "und wir wollen sie mit Ihnen allen verteidigen".
Steinmeier hielt seine Ansprache auf Englisch. Das Bundespräsidialamt legte eine offizielle Übersetzung ins Deutsche vor. Seine Rede eröffnete der Bundespräsident mit einem hebräischen Satz: "Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt."
Neben Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu halten auch Russlands Präsident Wladimir Putin, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron, US-Vizepräsident Mike Pence und der britische Thronfolger Prinz Charles Ansprachen. Polens Präsident Andrzej Duda hatte seine Teilnahme abgesagt, weil er nicht als Redner vorgesehen war.