Steffen Klusmann

Internationaler Frauentag 2021 Die Welt abbilden, wie sie ist

Steffen Klusmann
Ein Editorial von SPIEGEL-Chefredakteur Steffen Klusmann
Wie häufig zitieren wir im SPIEGEL Frauen, wie oft Männer, beschreiben sie, berichten über sie? Zum Internationalen Frauentag haben wir nachgezählt. Das Ergebnis ist ernüchternd – da muss sich was ändern.

Liebe Leserinnen und Leser,

heute ist der 8. März, der Internationale Frauentag. Seit genau 100 Jahren wird an jedem 8. März weltweit für Frauenrechte, für Gleichberechtigung und Emanzipation demonstriert. Es gibt Vorträge und Feiern, Kundgebungen und Leitartikel, die alle das eine Ziel haben: Einmal im Jahr daran zu erinnern, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterrepräsentiert ist, benachteiligt oder sogar unterdrückt wird.

Das Corona-Jahr war in dieser Hinsicht geradezu eine Offenbarung: Es hat klargemacht, dass Frauen die Mehrheit in den schlecht bezahlten Pflegeberufen stellen und dass sie nach wie vor den Großteil der unbezahlten Pflege- und Betreuungsarbeit im privaten Umfeld übernehmen.

Frauen sind in Parlamenten, Vorständen, Aufsichtsräten und anderen Gremien unterrepräsentiert und nehmen damit zu wenig Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie sind häufiger von Armut bedroht, gründen seltener, erleben häufiger Gewalt. Von den 2825 Milliardären weltweit sind nur 336 weiblich.

Die Liste ließe sich beliebig verlängern. All das wird an jedem 8. März mit viel Furor aufgeschrieben, Veränderung wird eingefordert und Besserung gelobt. Am 9. März gehen dann alle wieder zur Tagesordnung über.

Als wir beim SPIEGEL vor etwa zwei Wochen überlegten, welche Themen wir anlässlich des Weltfrauentags setzen könnten, entspann sich in der Redaktion genau diese Diskussion: Sind es nicht jedes Jahr die gleichen Themen und Texte? Warum verändert sich so wenig? Welchen Anteil haben wir mit unserer Berichterstattung daran? Warum konzentrieren wir uns nur einmal im Jahr darauf, Frauen in unserer Berichterstattung den Platz einzuräumen, der ihnen zusteht?

Aus diesem Anlass haben wir unsere Kolleginnen und Kollegen aus dem Datenteam gebeten zu analysieren, wie häufig wir in unseren Texten Männer und Frauen zitieren, beschreiben und über sie berichten. Sie haben dafür alle Texte ausgewertet, die zwischen dem 1. März 2020 und dem 28. Februar 2021 im gedruckten SPIEGEL oder im freien Bereich von SPIEGEL.de erschienen sind.

Das Ergebnis ist ernüchternd. In den rund 40.000 Artikeln werden 107.000 Mal Männer und nur 28.000 Mal Frauen namentlich genannt. In 73 Prozent aller Veröffentlichungen werden Männer erwähnt, in lediglich 37 Prozent Frauen. In 42 Prozent der Texte kommen ausschließlich Männer als Protagonisten oder Experten vor, nur in sechs Prozent aller Artikel sind es Frauen.

Dass dieses Verhältnis unausgeglichen sein würde, war uns klar. Dass es aber so eindeutig zuungunsten der Frauen ausfällt, hat uns nachdenklich gemacht.

Der SPIEGEL berichtet über die Mächtigen aus Politik und Wirtschaft, über Staats- und Regierungschefs, über Unternehmenslenker. Wir decken Missstände in unserer Gesellschaft auf und prangern jene an, die sich nicht korrekt verhalten. Wir könnten es uns jetzt einfach machen und sagen: Die Mächtigen und Einflussreichen, aber auch die, die für Missstände verantwortlich sind, sind nun mal in der Mehrzahl männlich – wir bilden also nur die Realitäten ab.

Aber das wäre zu billig. Denn es gibt ja längst genügend Politikerinnen, Unternehmenschefinnen, Wissenschaftlerinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen, Historikerinnen – also Expertinnen in den jeweiligen Gebieten. Sie sind nur nicht immer so prominent, drängen sich nicht sofort auf, stehen nicht immer in der ersten Reihe. Zu unserem Job gehört es, sie zu entdecken.

Wir arbeiten seit Jahren daran, den Frauenanteil in der SPIEGEL-Redaktion zu erhöhen. Weil wir die Welt abbilden wollen, wie sie ist. Und weil diverse Teams bessere Ergebnisse erzielen – sprich besseren Journalismus. Wir sind da auf keinem schlechten Weg: Inzwischen sind 40 Prozent der Leitungsfunktionen in der SPIEGEL-Redaktion mit Frauen besetzt.

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Jetzt muss es uns vor allem gelingen, die gelernten Denkmuster zu verändern. Und das geht, die BBC hat es vorgemacht. Vor vier Jahren startete die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt der Briten das Projekt »50:50«. Dessen Ziel: In allen Sendungen und in allen Beiträgen so viele Frauen zu Wort kommen zu lassen, wie es der Realität entspricht: 50 Prozent. Die BBC hat das geschafft.

Wir können hier nicht versprechen, dass wir bis zum nächsten 8. März ebenfalls so weit sind. Aber wir wollen es wenigstens versuchen. Damit wir dann nicht wieder nur über Dinge schreiben, die wir längst hätten anders machen können.

Ihr Steffen Klusmann

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