Studie für Fridays for Future Deutschland müsste schon in 15 Jahren CO₂-frei sein

Um eine Chance zu haben, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, müsste Deutschland sehr viel schneller CO₂-frei werden, als die Bundesregierung plant. Was das bedeutet, zeigt jetzt eine Studie für die Klimaschutzbewegung.

Windräder und Solaranlagen müssen viel schneller ausgebaut werden als bisher.

Windräder und Solaranlagen müssen viel schneller ausgebaut werden als bisher.

Foto: Patrick Pleul / DPA

Nur auf den ersten Blick sieht es ehrgeizig aus, wozu sich Deutschland verpflichtet hat, um die Erderwärmung zu stoppen.

  • In zehn Jahren, bis 2030, sollen die Treibhausgasemissionen um 55 Prozent gesunken sein.

  • Im Jahr 2050 soll Deutschland dann spätestens treibhausgasneutral sein.

Auf den zweiten Blick zeigt sich: Das reicht nicht, um die Erderwärmung auf unter 2 Grad, eher 1,5 Grad zu begrenzen, so sagen es Wissenschaftler schon lange. Dazu aber hat sich Deutschland, wie fast alle anderen Staaten der Welt, im Pariser Abkommen verpflichtet.

Heißt: Deutschland hat Klimaziele, aber sie passen nicht zum Pariser Klimaziel.

Wie schnell muss die Wirtschaft umgebaut werden?

Die Klimaschützer von Fridays for Future haben deshalb, finanziell unterstützt von der GLS Bank, beim Wuppertal Institut eine Studie in Auftrag gegeben, die zeigen soll, wie es gehen könnte. Sie liegt dem SPIEGEL vor.

Damit existiert nun eine Kalkulation, die zumindest einen ersten halbwegs realistischen Eindruck davon vermittelt, wie groß die Aufgabe ist, vor der die Gesellschaft steht. Wie schnell die Wirtschaft umgebaut werden muss.

Sehr schnell, sehr gravierend.

Viel schneller als geplant.

  • "Das Einhalten des 1,5-°C-Emissionsbudgets verlangt deutlich schnellere Emissionsminderungen und ein wesentlich früheres Erreichen von Treibhausgasneutralität als dies (...) in bestehenden politischen Zielvorgaben der Bundesregierung dargelegt ist", heißt es in der Studie. 

Nicht erst 2050, sondern schon 2035, also in 15 Jahren, darf Deutschland netto kein CO₂ mehr ausstoßen - und zwar nicht linear immer weniger, sondern zwischendurch noch schneller. Würde Deutschland Jahr für Jahr gleichermaßen mindern, müsste schon 2032 Schluss sein mit CO₂-Emissionen.

Windräder und Solaranlagen aufbauen

Dass das eine immense Aufgabe ist, wissen auch die Forscher: "Für einen derart schnellen Umbau großer Teile des Wirtschaftssystems gibt es bisher kein Beispiel".

Solaranlagen (Symbolbild): Erneuerbare Energien müssten vier- bis sechsmal schneller ausgebaut werden

Solaranlagen (Symbolbild): Erneuerbare Energien müssten vier- bis sechsmal schneller ausgebaut werden

Foto: FREDERICK FLORIN/ AFP

Damit sie gelingen kann, müssen vor allem die erneuerbaren Energien extrem schnell ausgebaut werden - der Studie zufolge mindestens doppelt so schnell wie bisher, eher vier- bis sechsmal so schnell. Denn der Strombedarf wird steigen, weil am grünen Strom fast alles hängt.

Im Schnitt der letzten beiden Jahre kamen bisher aber jedes Jahr nur etwa 6 Gigawatt Leistung an Sonnen- und Windenergie neu dazu. Künftig müssten der Studie zufolge 25 bis 30 Gigawatt pro Jahr neu entstehen. Möglicherweise sogar bis zu 40 Gigawatt.

Weniger nur dann, wenn im großen Stil grüner Wasserstoff oder andere regenerative Energien aus anderen Ländern importiert werden können. Danach sieht es aber nicht aus, weil kein Land derzeit derart große Mengen grünen Wasserstoffs produzieren kann.

Das Potenzial sei da, schreiben die Autorinnen und Autoren. Um den Ausbau zu schaffen, sei allerdings etwa die Beteiligung der Kommunen an den Gewinnen aus Windrädern ebenso nötig wie eine Vorschrift, auf neuen oder umgebauten Dächern Solarzellen anzubringen.

Grünen Wasserstoff produzieren

Die Kosten lägen wahrscheinlich bei rund 20 bis 30 Milliarden Euro pro Jahr, in den ersten Jahren wären sie höher als in späteren, weil die Technik absehbar günstiger wird. Dazu käme der notwendige Umbau der Stromnetze und der Aufbau von Stromspeichern.

Deutschland muss künftig sehr viel mehr Wasserstoff produzieren als derzeit, um etwa Flugzeuge oder Lkw zu betreiben - und das ganz und gar erneuerbar. Nötig wären demnach bis 2035 Anlagen mit Kapazitäten von mindestens 40 bis 90 Gigawatt - die Regierung plant der Studie zufolge maximal 10 Gigawatt.

Noch gibt es allerdings zu wenig Hersteller für die notwendigen Elektrolyse-Anlagen, wie die Wissenschaftler selbst notieren: "Das Hochfahren bis zur Massenherstellung wird sicherlich einige Jahre in Anspruch nehmen." 

Zusätzlich wären Importe nötig - und dafür baldmöglichst Abkommen über Kooperationen mit anderen Staaten. Außerdem Wasserstoffpipelines im Land.

Industrieanlagen umrüsten

Auch die Industrie, in Deutschland unter anderem die Stahlherstellung und die chemische Industrie, müsste bis 2035 schnell komplett frei von Öl, Kohle und Erdgas werden.

Das ist noch komplizierter als die Umstellung der Energieerzeugung: "Zum einen sind bestimmte für Klimaneutralität benötigte Technologien bzw. Prozess noch nicht kommerziell verfügbar bzw. technisch ausgereift, zum anderen sind insbesondere in der Grundstoffindustrie die üblichen Anlagenlebensdauern sehr lang."

Deshalb empfiehlt die Studie klare Vorgaben. Von jetzt an dürften nur noch treibhausgasneutrale Anlagen neu installiert werden.

Anders unterwegs sein

Radwege in Berlin: Das Auto solle weniger wichtig und unattraktiver werden

Radwege in Berlin: Das Auto solle weniger wichtig und unattraktiver werden

Foto: Bernd von Jutrczenka / DPA

Zuletzt sank der Treibhausgasausstoß im deutschen Verkehr gar nicht. Damit sich das ändert, ist es der Studie zufolge nötig, zunächst Verkehr zu reduzieren. Durch weniger Zersiedelung, Homeoffice, teurere Flüge und weniger Straßenbau könne der Personenverkehr um etwa ein Fünftel reduziert werden; der Güterverkehr um ein Zehntel.

Das Auto solle weniger wichtig und unattraktiver werden, durch Tempolimits, autofreie Zonen, andere Verkehrsführung und teureres Parken. Ziel: Autoverkehr um die Hälfte senken, Laufen, Radfahren und Fahrten im ÖPNV verdoppeln. Güter sollten seltener auf Lkw, häufiger auf Zügen transportiert werden.

Autos könnten außerdem leichter und effizienter werden und künftig mit Strom fahren. Dazu könnte ein Verbot des Verbrennungsmotors mit Übergangsphase beitragen. Lkw könnten teils mit Wasserstoff fahren, teils mit Oberleitungen, die entlang der Autobahnen gebaut werden müssten, jährlich auf 580 Kilometern.

Jedes Jahr müssten rund 36 Milliarden Euro in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs fließen - etwa 12 Milliarden für Zugverkehr und 24 Milliarden für den öffentlichen Nahverkehr.

Gebäude sanieren

Dämmung unter extrem hohen Standards

Dämmung unter extrem hohen Standards

Foto: Armin Weigel/ picture alliance / dpa

In den vergangenen Jahren wurden der Studie zufolge jährlich rund ein Prozent aller Gebäude energetisch saniert. Künftig müssten es viermal so viele sein - also vier Prozent jedes Jahr.

Dazu zählen: Dämmung, aber nur nach extrem hohen Standards, und neue Heizungen. In fünfzehn Jahren sollten 60 bis 80 Prozent der Heizungen Wärmepumpen sein, die mit Strom laufen (aktuell sind es weniger als 3 Prozent).

Nötig wäre aber auch, dass Menschen in kleineren Wohnungen leben, nicht in immer größeren.

Weniger Strom und Ressourcen verbrauchen

Überhaupt macht die Studie immer wieder klar, dass es nicht damit getan ist, nur Energieträger auszutauschen. Der Stromverbrauch muss sinken, die Zahl der Autos und Lkw-Fahrten auch, eine Kreislaufwirtschaft, die Stoffe weiterverarbeitet, mehr recycelt und weniger Material verbraucht, statt Müll zu produzieren, ist nötig.

Kosten bezahlen

Die Studie spricht sich für einen deutlich höheren CO₂-Preis aus, der sei ein wichtiges Instrument zur Steuerung, genüge aber nicht, um Infrastruktur aufzubauen. Dafür muss also jemand Geld aufwenden. Zudem müsse jemand die hohen Anfangsinvestitionen von Demonstrationsanlagen übernehmen: "Dies erfordert ohne Frage hohe unterstützende Investitionen seitens des Staates", heißt es in der Studie. 

Zusätzlich müsse der Staat dafür sorgen, dass Unternehmen trotz Umstellung wettbewerbsfähig bleiben und nicht pleitegehen oder ins Ausland abwandern, etwa durch Schutzsteuern oder höhere Standards.

Die Rechnung der Studie: das deutsche CO₂-Budget

Die Grundlage der Studie ist eine einfache, aber nicht unumstrittene Rechnung.

Der Weltklimarat IPCC hat in einem Bericht aufgeschrieben, wie viele Tonnen CO₂ die Menschheit insgesamt noch ausstoßen darf, um eine gewisse Chance zu haben, die Erderwärmung, die aktuell schon bei rund 1,2 Grad liegt, noch auf 1,5 oder 1,75 oder 2 Grad Celsius begrenzen zu können.

Global sind das über alle Länder und alle Jahre noch 580 Gigatonnen. Damit hätte die Menschheit nicht mehr und nicht weniger als eine 50-prozentige Chance auf lediglich 1,5 Grad mehr.

Deutschland hat etwa 1,2 Prozent der Weltbevölkerung - ihm stehen, so nehmen es die Wissenschaftler an, deshalb entsprechend noch 4,2 Gigatonnen zur Verfügung. Peilt man aber stattdessen eine 67-prozentige Chance auf 1,75 Grad an, läge das deutsche Budget bei 6,7 Gigatonnen. Derzeit stößt Deutschland jedes Jahr rund 0,8 Gigatonnen CO₂ aus.

Die Umrechnung des globalen Budgets in ein nationales Budget ist nun politisch umstritten: Die Bundesregierung weigert sich bislang, ein CO₂-Budget anzugeben - und damit auch die eigene Politik wirklich am Paris-Ziel zu messen.

Wie das weltweite CO₂-Budget auf die Länder umzulegen ist, dafür gibt es keine Vorgaben. Die Studie selbst verweist auf verschiedene Möglichkeiten.

  • Man könnte die Verhältnisse jetzt festschreiben, dann dürfte Deutschland doppelt so viel CO₂ ausstoßen wie der weltweite Durchschnitt. Das würde aber Länder, die bisher kaum zur Klimakrise beigetragen haben, benachteiligen und Länder wie Deutschland, die schon viel Schaden angerichtet haben, dafür belohnen.

  • Man könnte die historischen Emissionen einberechnen, das würde diejenigen härter treffen, die in der Vergangenheit schon viel ausgestoßen haben, wie Deutschland. Dann hätte Deutschland sein Budget aber womöglich schon ganz ausgeschöpft.

  • Man könnte auf einen globalen Emissionshandel setzen und gar keine festen Länderquoten festlegen. Doch so ein Handel ist nicht in Sicht - und die Zeit läuft davon.

  • Man könnte auch einfach festlegen, dass jedem Menschen der gleiche Anteil vom Restbudget zusteht. Darauf bezieht sich die Studie.

Sie geht zudem nicht davon aus, dass bald Technologien erfunden werden, mit denen CO₂ im großen Stil effizient und günstig gebunden werden kann. Solche Negativemissionen könnten theoretisch eine weniger rasante Transformation erlauben.

Die Verfasser der Studie gehen aber zugleich nicht davon aus, dass bald unumkehrbare Prozesse in Gang gesetzt werden (durch das Erreichen sogenannter Kipppunkte), die noch stärkere Einsparungen nötig machen würden.

Die Bundesregierung hält offiziell an ihren Klimazielen fest, wird sie womöglich nur leicht anheben, weil die EU sich auf höhere Ziele einigen will und Deutschland dann einen Beitrag leisten muss. Und schon diese Ziele werden bislang verfehlt, weil die Politik nur zögernd Maßnahmen ergreift, und weil die Aufgabe immens ist.

Die Studie des Wuppertal Instituts vermittelt einen konkreteren Eindruck, wie groß genau.

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