Spätaussiedler in Friedland Heimkehr in die Fremde
Die Heimat, nach der sich Sergey Getts so viele Jahre gesehnt hat, serviert ihm am ersten Tag Nudeln mit dünner Hackfleischsoße. Getts, 43, isst nur die Nudeln, die vor ihm auf einem Plastiktablett liegen. Er hat bei der Anmeldung im Lager nicht angegeben, dass er Vegetarier ist. "Kein Problem." Der zierliche Mann aus Kasachstan lächelt. Ist ja nur für ein paar Tage.
In dem Örtchen Friedland in Niedersachsen kommen seit dem Zweiten Weltkrieg Menschen an, die in Deutschland eine Heimat sehen. Ihre Vorfahren waren aus Deutschland zum Beispiel an die Wolga, auf die Krim oder ans Schwarze Meer ausgewandert.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion in den Neunzigerjahren kehrten ihre Nachfahren zu Hunderttausenden zurück. Als Spätaussiedler erhalten sie in der Bundesrepublik die deutsche Staatsangehörigkeit; auch ihre Verwandten können selbige beantragen.
Im vergangenen Jahr kamen immerhin noch rund 6600 Spätaussiedler und Angehörige, ihre Zahl steigt seit 2012 wieder. Alle müssen durchs Grenzdurchgangslager in Friedland, die einzige verbliebene Stelle bundesweit, die Spätaussiedler registriert.

In Friedland hat Sergey Getts mit seiner Frau Alfia und dem 13-jährigen Sohn Artyom ein Zimmer in Haus 5 bezogen. Sie haben ihre Rucksäcke auf eines der Stockbetten gelegt, Laken um die durchgelegenen Matratzen gewickelt, Sergey hat seine tibetische Klangschale hervorgekramt und auf dem fleckigen Boden Yoga gemacht.
"Yoga gibt mir Kraft", sagt er. Ein Kunde hat ihm auf dem Markt in Petropawl davon erzählt, wo Sergey jahrelang mit einem Beil Kühe zerhackte, bis er Rückenschmerzen bekam. In Deutschland wünscht er sich einen besseren Job, Bäcker wäre toll. Sein Sohn soll studieren. "Ingenieur", sagt Artyom schüchtern. Alfia möchte als Verkäuferin arbeiten.
In Petropawl hatten sie ein Haus mit Plumpsklo im Hof, keine Dusche - und sie würden wohl als Wirtschaftsflüchtlinge gelten, wenn Sergey keinen Großvater hätte, der Anton Getz hieß, was vielleicht mal Götz war, und den Stalin 1941 von der Wolga nach Kasachstan vertreiben ließ, weil er deutsche Wurzeln hatte.
Sergeys Mutter ist Russin und sein Deutsch ist nicht gut. Die kasachischen Behörden haben aus seinem Namen "Getts" gemacht. Trotzdem sei auch er in Petropawl immer der Deutsche gewesen. "Meine Lehrer und Mitschüler haben mich deswegen unterdrückt", erzählt Sergey. Er hatte Angst, dass sein Sohn Artyom auch keinen besseren Job findet. "Unsere Kinder haben in Kasachstan keine Zukunft."

Ein paar Jahre vor Artyoms Geburt hatten Sergey und Alfia schon einmal versucht, nach Deutschland zu kommen. Sergeys Vater war als Spätaussiedler in die Nähe von Stuttgart gezogen. Seine Schwester folgte nach, auch ein Dutzend Cousins und Cousinen. Sergey packte es als einziger nicht.
Spätaussiedler müssen beweisen, dass sie von jemandem abstammen, der in den Vierzigerjahren in der Sowjetunion wegen seiner deutschen Herkunft verfolgt oder benachteiligt wurde. Das konnte Sergey Getts.
Es gibt immer mal wieder Versuche zu tricksen. Denn manche Beamte lassen sich bestechen und Urkunden gibt es auf dem Schwarzmarkt. Doch mit "Erfahrung und historischen Kenntnissen" decke man diese Fälle meist auf, heißt es beim Bundesverwaltungsamt, kurz BVA, das für die Aufnahme zuständig ist. Sehr selten fordere man auch mal einen DNA-Test an.
Spätaussiedler müssen sich zur deutschen Nationalität bekannt haben. Im Vielvölkerstaat Kasachstan ist es bis heute üblich, die ethnische Abstammung seiner Bürger im Pass zu vermerken. Sergey Getts musste sich dort als Deutscher eintragen lassen.
Spätaussiedler müssen außerdem: ein Gespräch auf Deutsch führen können. Mitarbeiter des BVA prüfen das vor Ort nach. Sergey Getts fiel durch. "Ich bin eine Bremse", sagt er über sein mangelndes Sprachtalent und grinst verlegen.
Und so dauerte es bei dem Mann, der sich beim Yoga fantastisch verrenken kann und in seiner Freizeit filigranste Modellboote baut, fast 20 Jahre, bis er seiner Familie folgen konnte.
Möglich machte es eine Änderung im Bundesvertriebenengesetz 2013, die Spätaussiedlern erlaubt, einen Antrag zu stellen, um ihre Kinder und Enkel nachzuholen. Früher durften diese nur in Begleitung eines Spätaussiedlers kommen. Die Änderung ist auch der Grund, warum Friedland wieder mehr Ankünfte verzeichnet.
Tag zwei im Grenzdurchgangslager.
"Ich stelle Ihnen jetzt ein paar Fragen", sagt der Mitarbeiter des BVA zu Familie Getts. Sergey knetet seine Fingerknöchel. Er kann nun nicht die Maultrommel aus seiner Jackentasche ziehen, auf der er gern spielt, wenn er nervös ist - wie vorhin in der Göttinger Klinik, wo rund 30 Spätaussiedler und ihre Verwandten auf Tuberkulose untersucht wurden.
IM VIDEO: Gesundheitscheck für Spätaussiedler
"Ist das Ihre erste Ehe?", fragt der Mitarbeiter des BVA, erst auf Deutsch, dann auf Russisch. Sergey Getts nickt. "Was sind Sie von Beruf?" "Nach Armee ich gearbeitet auf Markt Metzger." An der Wand hängt eine Deutschlandkarte. Sergey, Alfia und Artyom beugen sich auf ihren Plastikstühlen angespannt nach vorn. Dabei ist das hier eigentlich nur noch eine Formsache.
Sergey Getts gilt per Gesetz als Deutscher, seit er vor zwei Tagen in Stuttgart gelandet ist. Denn das BVA hatte ihm erlaubt, als Abkömmling eines Spätaussiedlers in die Bundesrepublik zu kommen. Der Einbeziehungsbescheid dazu liegt in der blauen Mappe in Alfias Händen.
Bis zum Jahr 1990 prüften die Behörden erst in Deutschland, wer bleiben durfte. "Viele Menschen hatten dort, wo sie herkamen, alles verkauft und wurden dann abgelehnt", erinnert sich Jonathan Tomczyk, der seit fast 30 Jahren in der Friedländer Außenstelle des BVA arbeitet. "Das waren Katastrophen, die sich an unseren Schreibtischen abspielten."
Inzwischen gibt es ein geregeltes Verfahren, das im Herkunftsland beginnt und es dem BVA ermöglicht, die Aufnahme und Verteilung zu planen. Außerdem bewahre es Menschen in Kasachstan oder Russland davor, "einen großen Fehler zu machen", wie Tomczyk es nennt.
Zwei Behörden, zwei Welten
In Friedland sind auch einige hundert Asylbewerber untergebracht. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat seine Außenstelle im selben Gebäude wie das BVA. Zwei Behörden, zwei Welten.
In der Lobby sortieren sich Menschen nach ihrem Leid: Jene, die unter den Folgen eines Kriegs leiden, der seit 70 Jahren vorbei ist, gehen geradeaus zum BVA. Jene, die vor einem Krieg geflohen sind, der noch immer tobt, biegen links ab zum Bamf.
Ammar Aldiib, 26, kommt aus dem syrischen Homs. Er ist seit zwei Monaten in Friedland. Er weiß nicht, wie lange das Asylverfahren noch dauert und wie es ausgeht. Die Spätaussiedler und ihre Familien sieht er täglich in der Kantine, doch man spreche selten miteinander, "sie können wenig Deutsch". Aldiib kann sich fließend unterhalten.
Man kann ungerecht finden, wie unterschiedlich der deutsche Staat seine Einwanderer behandelt. Der Leiter des Grenzdurchgangslagers, Heinrich Hörnschemeyer, sieht es pragmatisch: "Wir haben gewählte Vertreter, die rechtliche Rahmenbedingungen schaffen", sagt er. "Es ist Aufgabe der Verwaltung, diese umzusetzen."
Endlich ein Leben ohne Stigma?
Am Nachmittag um drei Uhr ruft eine Sachbearbeiterin des BVA Familie Getts wieder zu sich. "Sie kommen nach Reutlingen", verkündet sie. In ein Übergangswohnheim. Spätaussiedler werden wie Flüchtlinge nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Sobald sie sich vor Ort einmal gemeldet haben, steht es ihnen jedoch frei, woanders hinzuziehen.
Für Sergey Getts ist es ein Volltreffer. "Reutlingen", er strahlt. "Das ist nicht weit von meinem Vater. Danke!" Er mag die Berge der Schwäbischen Alb und die klare, saubere Luft. Ein paarmal war er schon zu Besuch und immer musste er sich danach an die Abgase in Petropawl wieder gewöhnen.
Der stille, hübsche Artyom vermisst seinen besten Freund Nikita, der oft beim Holzhacken half, und die Hunde Elsa und Zorhan, um die sich jetzt der Vermieter kümmern soll. Doch Vater Sergey zieht nichts zurück in seine Geburtsstadt: "Es war überhaupt nicht schwer, alles zurückzulassen", sagt er. Endlich sei er in einem Land, in dem an seinem Deutschsein kein Stigma mehr hafte.
"Ich habe die deutschen Tugenden immer gepflegt", sagt Sergey. "Pünktlichkeit, Ehrlichkeit und Fleiß." Doch womöglich wird er auch in Deutschland stets ein Fremder bleiben? Sergey Getts, der seinen Namen in Getz ändern möchte, blickt erstaunt. "Daran habe ich noch nie gedacht."