Grünen-Hochburg in Berlin Kampf um Ströbeles Erbe

Viermal gewann Hans-Christian Ströbele seinen Berliner Wahlkreis - den einzigen für die Grünen in ganz Deutschland. Jetzt zieht sich das Urgestein zurück. Zwei Deutsch-Türkinnen ringen um seine Nachfolge.
Grünen-Politikerin Canan Bayram, im Hintergrund Hans-Christian Ströbele

Grünen-Politikerin Canan Bayram, im Hintergrund Hans-Christian Ströbele

Foto: Soeren Stache/ dpa

Luftballons aufpumpen - ein echter Straßenwahlkämpfer muss das unbedingt können. Als Canan Bayram sieht, wie ungeschickt sich ihr Helfer anstellt, stellt sie sich lieber selbst an die Heliumflasche. Schließlich wartet am Friedrichshainer Traveplatz eine ganze Horde Kinder, um einen grünen Ballon zu ergattern. Der Mitarbeiter trollt sich, er soll lieber die Flyer und Zeitungen mit ihrem Porträt darauf verteilen.

Canan Bayram ist in diesen Tagen im Dauereinsatz. Seit mehr als zehn Jahren sitzt sie im Berliner Abgeordnetenhaus, erst für die SPD, dann für die Grünen. Aber jetzt geht es um mehr: Bayram, 51, will in den Bundestag. Sie kandidiert im Wahlkreis 83, er umfasst den Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und den östlichen Teil des Prenzlauer Berg. Das ist nicht irgendein Wahlkreis: Es ist der einzige von 299 in der Republik, den die Grünen direkt gewonnen haben.

Geschafft hat das Hans-Christian Ströbele, das Urgestein, das linke Gewissen der immer bürgerlicher gewordenen Öko-Partei. Vier Mal lag er hier vorne, zuletzt holte er 2013 fast 40 Prozent der Erststimmen. Inzwischen ist Ströbele 78, im Dezember vergangenen Jahres erklärte er seinen Rückzug aus dem Bundestag. Die Sorge bei den Grünen war groß: Wer kommt danach? Wer kann an Ströbeles Erfolg anknüpfen?

Nun soll Canan Bayram sein Erbe antreten. Eine große Aufgabe, das ist ihr bewusst. Auch für sie persönlich steht viel auf dem Spiel. Bayram hat keinen sicheren Platz auf der Landesliste. Gewinnt sie den Wahlkreis nicht, kommt sie auch nicht in den Bundestag.

Prognosen der Plattformen election.de  und wahlkreisprognose.de  sehen Bayram momentan vorne, knapp gefolgt von Pascal Meiser von den Linken und der SPD-Bewerberin Cansel Kiziltepe. Aber Bayram geht auf Nummer sicher, tritt bei Podiumsdiskussion und Veranstaltungen gerne gemeinsam mit Ströbele auf. Ihn kennt man - mit ihr müssen viele erst noch warm werden.

Natürlich wolle sie Ströbeles Friedenspolitik weiter fortführen, sagt die Grünen-Politikerin. Unbedingt möchte sie aber auch eigene Akzente setzen: "Ich bin eine Frau und ich bin Migrantin, allein dadurch habe ich einen anderen Blick auf die Dinge als Hans-Christian Ströbele."

Weiblich und Migrantin - Merkmale, die Bayrams politische Laufbahn und Positionen prägen. Zu oft hat sie sich über eine männlich dominierte Diskussionskultur in der Berliner SPD geärgert, der sie bis 2009 noch angehörte. Sie trat aus und ging zu den Grünen.

Doch auch hier geriet sie mit einem Parteikollegen aneinander. Boris Palmer und sein Buch zur Flüchtlingskrise "Wir können nicht allen helfen" erinnerten sie an den Rassismus Thilo Sarrazins, so Bayram. Angriffslustig wies sie Palmer beim Parteitag der Grünen in seine Schranken: "Einfach mal die Fresse halten."

Canan Bayram beim Straßenwahlkampf in Berlin

Canan Bayram beim Straßenwahlkampf in Berlin

Foto: SPIEGEL ONLINE

Heute sagt sie: "Ja, da bin ich leidenschaftlich." Und weiter: "Ich habe schon einmal eine Partei wegen solcher Einstellungen verlassen, noch einmal tue ich das nicht." War Ströbele noch der charmante, alt-linke Pazifist, ist Bayram, die neue Grün-Linke mit der Kampfansage.

Keine Chance für die CDU

Bayram ist kurdisch-türkischer Abstammung, sie wurde 1966 in Malatya in Ostanatolien geboren, wuchs am Niederrhein auf. Seit 2003 lebt sie in Berlin. Der Migrationshintergrund ist in ihrem Wahlkreis kein Alleinstellungsmerkmal unter den Kandidaten. Für die CDU etwa tritt Timur Husein an. Seine Mutter stammt aus Kroatien, der Vater aus der Türkei. Der Wahlkreis ist allerdings Unions-Diaspora - die CDU lag stets abgeschlagen auf Rang vier.

Mehr Chancen rechnet sich nach dem Ströbele-Rückzug Cansel Kiziltepe aus. Den ganzen Tag Termine, abends Tür-zu-Tür-Wahlkampf, zwischendurch Bürgersprechstunde im Büro - auch die 41-jährige SPD-Politikerin findet kaum Zeit zum Luftholen. "Meinen zweijährigen Sohn sehe ich momentan kaum", sagt sie.

Berufstätige Mutter - das ist eine von vielen Rollen, die die Sozialdemokratin in ihrem Wahlkampf verkörpern will. So wie sie von einem Termin zum nächsten Termin rast, wechselt sie zwischen den Wahlkampfidentitäten: Mal ist sie als Tochter eines türkischen Gastarbeiters ein cooles Vorbild für junge Migranten, mal die bürgerliche Volkswirtin im Kostüm und dann wieder das waschechte "Kiezkind".

Gefahren der Gentrifizierung als Topthema

"Ich bin gebürtige Kreuzbergerin und hier aufgewachsen", sagt sie. "Ich weiß wovon ich rede." Ihr Kiez sei ein Seismograph der Republik. "Hier entwickelt sich alles zuerst - auch Probleme."

2013 holte Kiziltepe als SPD-Direktkandidatin 18 Prozent, dieses Jahr hofft sie, ohne Ströbele, gegen die Grünen gewinnen zu können. Ströbele ist für sie ein Phänomen, allerdings habe er Themen, die die Menschen im Kiez bewegten, ignoriert, sagt Kiziltepe.

SPD-Politikerin Cansel Kiziltepe in ihrem Büro

SPD-Politikerin Cansel Kiziltepe in ihrem Büro

Foto: SPIEGEL ONLINE

Immer weiter steigende Mieten, kleine Geschäfte, die von Investoren verdrängt werden - die Gentrifizierung ist in den beliebten Wohngegenden von Friedrichshain, Kreuzberg und Prenzlauer Berg allgegenwärtig. Sowohl Bayram wie auch Kiziltepe schreiben sich das Thema Wohnungspolitik deshalb groß auf die Fahne.

Dabei will Bayram eine harte juristische Linie fahren und Vermieter sogar enteignen können. Kiziltepe hält das für populistisch und unrealistisch. Es gebe bereits ausreichende Instrumente, die wie eine Enteignung wirkten. Stattdessen will Kiziltepe die Modernisierungsumlage des Vermieters auf den Mieter abschaffen. Denn allein durch diese käme es noch immer zu Mieterhöhungen von 50 bis 60 Prozent, sagt die SPD-Politikerin.

Grundsätzlich aber verfolgen beide Konkurrentinnen politisch ähnliche Ziele, zudem gehören beide zum linkeren Spektrum ihrer Parteien. Fragt man sie, wie sie sich voneinander unterscheiden, antwortet Canan Bayram, Kiziltepe lege stärkeren Fokus auf ihre Geschichte als Gastarbeiterkind und ihren sozialen Aufstieg durch die Sozialdemokratie. Sie selbst sei als Lehrerkind anders sozialisiert.

Kiziltepe hingegen betont, im Gegensatz zu Bayram sei sie ein Kreuzberger Original. Sie engagiere sich schon seit Jahren für soziale Fragen wie die Erhaltung des sogenannten Bizim-Kiezes rund um die Wrangelstraße. Die Frage ist nur, ob das reicht, den sicher noch nachwirkenden Ströbele-Vorteil ihrer Grünen-Konkurrentin wettzumachen.


Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes wurde der Eindruck erweckt, in den Erststimmenprognosen für den Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg-Ost liege die SPD-Politikerin Cansel Kiziltepe hinter Canan Bayram auf Platz zwei. Tatsächlich liegt sowohl in der Prognose von election.de wie auch in jener von wahlkreisprognose.de der Linken-Kandidat Pascal Meiser auf Platz zwei, Kiziltepe dagegen auf Platz drei. Wir haben die entsprechenden Passagen im Text korrigiert und bitten um Entschuldigung.

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