US-Überwachung in Deutschland Gabriel fordert Ermittlungen gegen NSA-Chef

SPD-Chef Gabriel: Snowden "scheint jedenfalls ein sehr mutiger Mann zu sein"
Foto: Kay Nietfeld/ dpaBerlin - SPD-Chef Sigmar Gabriel hat in der Spähaffäre rund um den US-Geheimdienst NSA die Bundesanwaltschaft dazu aufgerufen, Ermittlungen gegen die Verantwortlichen der beteiligten Nachrichtendienste einzuleiten. "Es handelt sich um einen Angriff auf in der Verfassung geschützte Grundrechte", sagte Gabriel SPIEGEL ONLINE. "Ich fände es angemessen, wenn die Bundesanwaltschaft ein Verfahren gegen die Verantwortlichen der amerikanischen und britischen Geheimdienste anstrengt." Im Zweifel müsse auch gegen die "deutschen Helfershelfer" ermittelt werden, so der SPD-Vorsitzende.
Gabriel appellierte an die deutsche Justiz, rasch Kontakt zum NSA-Whistleblower Edward Snowden aufzunehmen. "Der erste Schritt muss doch sein, dass die Bundesanwaltschaft nach Moskau reist, um Herrn Snowden als Zeugen zu vernehmen", sagte Gabriel. "Und wenn sie den Eindruck hat, dass er ein verlässlicher Zeuge ist, muss man überlegen, ob er in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden sollte."
Lesen Sie hier das gesamte Interview mit SPD-Chef Gabriel:
SPIEGEL ONLINE: Die US-Geheimdienste spionieren massiv in Deutschland und der EU. Sie sind seit Jahren in der ersten Reihe der Politik. Wie schützen Sie Ihre persönliche Kommunikation?
Gabriel: Ich weiß, dass ich meine Mails verschlüsseln könnte. Aber ich sehe, ehrlich gesagt, nicht ein, dass die verfassungsmäßige Garantie des Postgeheimnisses jetzt privatisiert wird. Unser Staat hat dafür zu sorgen, dass die Privatsphäre jedes Menschen geschützt ist. Dieses Grundrecht wird aber gerade zerstört, wenn wir alle einer modernen Hybridüberwachung ausgeliefert werden.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?
Gabriel: Private Unternehmen wie Facebook und Google sammeln unsere Daten, und Geheimdienste beschaffen sich dazu Zugang. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit werden die Datensammelstellen des Kapitalismus mit den Datensammelstellen der Geheimdienste verknüpft. Dagegen wirkt der so gefürchtete Big Brother von George Orwell ziemlich antiquiert.
SPIEGEL ONLINE: Viele Menschen gehen heutzutage sehr freizügig mit ihren Daten um, sie haben Twitter-Konten und Facebook-Profile. Da denkt sich mancher: Was ist so schlimm an der Überwachung, wenn wir uns ohnehin bereitwillig entblößen?
Gabriel: Nach der Argumentation wäre jeder, der das Internet nutzt, selbst schuld daran, dass irgendein Geheimdienst ihn scannt. Nach unserer Verfassung hat der Staat dabei nichts zu suchen. Wenn das im Internetzeitalter nicht mehr gelten soll, zerstören wir das Wertefundament unserer Gesellschaft. Und übrigens auch die Wertegemeinschaft, die uns mit den USA und in Europa seit Jahrzehnten verbindet. Denn in dieser Wertegemeinschaft gehen die individuelle Freiheit und der Schutz der Persönlichkeit vor. Genau das hat uns einst vom Ostblock unterschieden. Dort war es umgekehrt.
SPIEGEL ONLINE: Was ist aus Ihrer Sicht das Kernproblem der Überwachungsmaßnahmen?
Gabriel: Artikel 10 unserer Verfassung schützt das Post- und Fernmeldegeheimnis. Dieser Artikel macht keinen Sinn mehr, wenn Geheimdienste millionenfach Deutsche ausspähen. Dann steht der Schutz der Persönlichkeit nur noch auf dem Papier. Ich fände es angemessen, wenn die Bundesanwaltschaft ein Verfahren gegen die Verantwortlichen der amerikanischen und britischen Geheimdienste anstrengt. Im Zweifel natürlich auch gegen ihre deutschen Helfershelfer.
SPIEGEL ONLINE: Derzeit wird in Deutschland darüber gestritten, ob der NSA-Informant Edward Snowden in Deutschland Asyl bekommen sollte. Die Bundesregierung lehnt das ab. Handelt sie richtig?
Gabriel: Der erste Schritt muss doch sein, dass die Bundesanwaltschaft nach Moskau reist, um Herrn Snowden als Zeugen zu vernehmen. Und wenn sie den Eindruck hat, dass er ein verlässlicher Zeuge ist, muss man überlegen, ob er in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden sollte. Wir brauchen eigentlich nur unser ganz normales Rechtssystem wirken zu lassen. Das erwarte ich auch von der Bundesregierung.
SPIEGEL ONLINE: Wie wollen Sie ausschließen, dass unsere Nachrichtendienste, etwa der BND, im Ausland nicht ähnlich arbeiten wie die amerikanischen Kollegen?
Gabriel: Wenn der BND über den ihm gesetzten Rahmen hinausgehen oder mit anderen Geheimdiensten zusammenarbeiten sollte, um gesetzliche Beschränkungen zu umgehen, ist das eine Straftat und muss verfolgt werden. Was wir aktuell erleben, ist kein kleiner Geheimdienstskandal, bei dem mal wieder ein paar Schlapphüte zu weit gegangen sind. Durch die Vernetzung der Daten großer Konzerne mit denen von Geheimdiensten wird unser Rechtssystem ausgehebelt. Man muss aufpassen, dass man das nicht verniedlicht. Das ist kein Betriebsunfall. Wir befinden uns an einem Wendepunkt im Umgang mit personenbezogenen Daten und brauchen endlich europäische und internationale Regeln dafür.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben der Kanzlerin eine Mitwisserschaft bei den US-Spähaktivitäten unterstellt. War das nicht ein bisschen dick aufgetragen?
Gabriel: Ich glaube einfach nicht, dass der BND von all dem nichts wusste. Und die Kontrolle des BND liegt nun mal im Bundeskanzleramt.
SPIEGEL ONLINE: Ihr Fraktionschef, Frank-Walter Steinmeier, war auch mal Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt. Warum sollte der Wissensstand unter ihm anders gewesen sein, als das heute der Fall ist?
Gabriel: Steinmeier hatte die Geheimdienste im Griff, daran habe ich keinen Zweifel. Aber mir geht es nicht darum, nur mal im Wahlkampf den heutigen Geheimdienstkoordinator oder die Kanzlerin anzugreifen. Es geht doch um etwas anderes. Nach dem 11. September 2001 sind Regeln geschaffen worden, die die jetzige Entwicklung vorbereitet haben. Und wer wollte es den Amerikanern damals verdenken? Aber wir merken doch, dass uns das alles aus dem Ruder läuft und niemand weiß, wo die persönlichen Daten in Zukunft landen werden. Wir müssen neue Regeln schaffen, die sicherstellen, dass wir nicht das zerstören, was wir eigentlich sichern wollen: eine freiheitliche Ordnung.
SPIEGEL ONLINE: Bisher ist die SPD nicht als großer Datenschutzverein aufgetreten. Sie befürworten die Vorratsdatenspeicherung und haben kürzlich das Bestandsdatengesetz abgenickt. Muss Ihre Partei diese Positionen überdenken?
Gabriel: Mit Verlaub, das sind zwei völlig unterschiedliche Debatten. Die Vorratsdatenspeicherung erfolgt bei privaten Unternehmen, und der Staat hat darauf erst dann Zugriff, wenn im Einzelfall der Verdacht einer schweren Straftat vorliegt. Außerdem unterliegt sie dem Richtervorbehalt.
SPIEGEL ONLINE: Was müssen aus Ihrer Sicht die Konsequenzen aus den Enthüllungen der vergangenen Wochen sein?
Gabriel: Wir müssen wissen, was wirklich passiert ist. Es handelt sich um einen Angriff auf in der Verfassung geschützte Grundrechte. Was haben die US-Dienste wirklich ausgeforscht? In welchem Umfang ist das geschehen? Und wer hatte davon Kenntnis? Die Kanzlerin muss sagen, was sie weiß.
SPIEGEL ONLINE: Merkel drängt die US-Regierung doch längst zu Aufklärung.
Gabriel: Der Außenminister trinkt mit dem US-Botschafter Kaffee, statt ihn ordentlich einzubestellen. Und die Kanzlerin sagt, sie wolle irgendwann mal mit Obama telefonieren. Allein den Satz finde ich schon skandalös. Obama war hier. Da hätte Merkel mit ihm reden können. Ich hoffe doch sehr, dass die Verfassung unseres Landes für die Kanzlerin kein Neuland ist. Und um die geht es.
SPIEGEL ONLINE: Die USA sind unser wichtigster Verbündeter. Vertrauen entsteht so, wie Sie es sich vorstellen, nicht.
Gabriel: Es geht jetzt um grundsätzliche Fragen unsere Freiheit. Wir müssen international klären, wie wir mit Daten umgehen und unsere Bürgerrechte schützen. Einfach eine gesamte Gesellschaft per Rasterfahndung zu durchleuchten, geht zu weit.
SPIEGEL ONLINE: Ist Snowden aus Ihrer Sicht ein Held oder ein Verräter?
Gabriel: Er scheint jedenfalls ein sehr mutiger Mann zu sein. Er hat aufgedeckt, was da passiert. Dazu gehört viel Mut. Und davor habe ich Respekt.