Gabriels SPD-Erneuerung Zauberformel ohne Garantie

SPD-Chef Gabriel: Argwohn der Aktivisten
Foto: Oliver Dietze/ dpaIn schöner Regelmäßigkeit entdecken die Parteien den Charme der Basisdemokratie, wie nun wieder die Gabriel-SPD. Das geschieht natürlich nie ganz freiwillig. Es ist immer Ausfluss schlimmer Krisen, schwerer Wahlniederlagen, deftiger Mitgliederverluste, vor allem aber: Reaktion auf den demoskopisch akkurat ermittelten Anstieg der Parteienverdrossenheit im Volke. Und seit 25 bis 30 Jahren werden die immer gleichen Rezepte feilgeboten. Partizipation, mehr innerparteiliche Debatten, Vorwahlen, offene Listen, größeren Raum für Quereinsteiger.
In der Regel verschafften sich die Anwärter auf Führungspositionen damit die Legitimation, um die alten, beschädigten Parteieliten ersetzen zu können. Oft endet der Reformimpetus ziemlich rasch, sei es, weil die neuen Eliten an mehr Debatten und größerer Transparenz in Wirklichkeit wenig Interesse hatten, sei es, weil der Mittelbau und die Mitgliederbasis die neuen Möglichkeiten keineswegs so freudig nutzten, wie man erwartet hatte.
Das alles ist europaweit zu beobachten. Beispiel Frankreich. Hier zeigte sich die Sozialistische Partei zuletzt reformfreudig, weil hier die Not durch eine schon über Jahre anhaltende Machtlosigkeit und tiefe innere Aufsplitterung in Clans und Cliquen wohl am stärksten in der europäischen Sozialdemokratie ausgeprägt ist.
Mitte 2009 setzte sich die Vorsitzende der PS, Martine Aubry an die Spitze der innerparteilichen Erneuerungsbewegung und verkündete die "totale Erneuerung". Eine entscheidende Station in diesem Prozess sollte das Mitgliederreferendum am 1. Oktober 2009 werden. Die Mitglieder hatten darüber zu entscheiden, ob der künftige Präsidentschaftskandidat der PS durch Vorwahlen nominiert wird, an denen auch Sympathisanten teilnehmen dürften, oder weiter nach dem traditionellen Delegiertensystem. Das dürfte wohl auch ein Stück Vorbild für Gabriel gewesen sein.
Zögerliche Basis
Rund 70 Prozent der Abstimmenden sprachen sich für die Reform aus, also auch für das Basisplebiszit über Spitzenkandidaturen. Indes: Nur 46 Prozent der PS-Mitglieder nahmen an diesem Referendum teil, was denn doch einigen Aufschluss gibt über den innerparteilichen Zustand. Vielleicht glaubten auch die meisten Mitglieder nicht mehr so recht an die Erneuerung ihrer Partei. Vor fünf Jahren jedenfalls hatte es mit dem Engagement besser ausgesehen: Im Dezember 2004 nahmen immerhin 83 Prozent der französischen Sozialisten an einer Mitgliederbefragung über den europäischen Verfassungsvertrag teil.
Schon früh machte sich ebenfalls die durch die Erfolge der rechtpopulistischen FPÖ schwer irritierte und dezimierte SPÖ an organisatorische Veränderungen. Seit 1993 lässt sie Vorwahlen zu, die allerdings nur ein einziges Mal, im Jahr 1994, ohne große Folgen zur Durchführung kamen. Zugleich richtete die SPÖ eigene "Themeninitiativen" ein, um Alternativen zur konventionellen Ortsvereinsstruktur auch für Nichtmitglieder offerieren zu können.
Aber weder Mitglieder noch Nichtmitglieder fanden Gefallen an dieser Ergänzung zur Parteiroutine. Gerade die Aktivisten in der Sozialdemokratie betrachteten die Öffnungsabsichten ihrer Parteiführungen eher mit Misstrauen. Sie empfanden diese Initiativen nicht als Ausdruck willkommener Modernität, sondern als Angriff auf die von ihnen oft über Jahrzehnte praktizierte Verbindlichkeit des förmlich gesicherten politischen Engagements.
Es geht um Kommunikation, um Image
Tatsächlich haben die Labour-Reformer um Tony Blair vorexerziert, wie man mit Hilfe direktdemokratischer Schübe die klassischen Aktivisten der mittleren Ebene ausspielen konnte - nur, um danach einen rigiden Top-down-Führungsstil zu praktizieren. Exakt das befürchten in diesen Tagen auch eine Menge Funktionäre im Mittelbau der SPD.
Insofern muss man auch bei den deutschen Sozialdemokraten nicht unbedingt damit rechnen, dass die schöne Reformrhetorik des Parteichefs à la longue irgendwelche praktischen Konsequenzen haben wird. Vielleicht geht es auch dieses Mal wieder lediglich um Kommunikation, um Image, um die rechtzeitige Besetzung eines attraktiven Themas.
Wie auch immer: Basisdemokratie birgt Tücken wie Chancen. Und ein Patentrezept zur Überwindung der berüchtigten Parteienverdrossenheit ist sie sicher nicht. Ur- und Vorwahlen etwa, erneut Kernstück und Zauberformel im aktuellen sozialdemokratischen Reformvorschlag, sind gewiss nicht gerade der letzte Schrei innerparteilicher Reformkreationen. Aber sie mögen zu wirksamen Erfahrungen führen, wenn die Kandidaten der Sozialdemokratie künftig einen großen demokratischen Nominierungsprozess durchstehen müssen. Bei diesen Plebisziten müssen die Kandidaten früh Profil zeigen - und nicht erst, wie im Falle von Steinmeier 2009, als plötzliche Spitzenkandidaten im Bundestagswahlkampf selbst.
Parteichef an der kurzen Leine?
Indes: Wählerbindungen lassen sich dadurch nicht revitalisieren. Und auch das: Die offene Feldschlacht verschiedener Kandidaten kann Parteien polarisieren, gar lähmen. Im Übrigen bringen basisdemokratische Wahlen das wohlorganisierte System von Quoten und Proporz durcheinander - und darin besteht der wirkliche Widerspruch im gegenwärtigen Auftritt von Sigmar Gabriel. Er will auf der einen Seite Quotierungen durchsetzen und auf der anderen Seite die freie Wahl der Basis (plus Nichtmitglieder) erreichen.
Doch beides passt nicht zusammen, da die Quotierung - man hat ausreichend Migranten zu berücksichtigen, natürlich viele Frauen; real existierende Arbeitnehmer sollen auch nicht unter den Mandatsträgern fehlen, junge Leute haben auf der Liste genügend Plätze zu bekommen, der ein oder andere Seiteneinsteiger wäre fürs Image sicher auch nicht schlecht - die Mitsprache massiv einschränkt, einschränken muss.
Und gerade das Kraftpaket Sigmar Gabriel wird sich nicht gerne an die kurze Leine von Basispartizipatoren legen lassen. Schließlich will er führen, die Sozialdemokraten aus alten Stellungen treiben, neue Themen finden und Projekte schaffen. Er wird nicht einfach als Reflex der gegenwärtigen SPD-Mentalität mit all ihren riesigen Defiziten agieren mögen. Mit einigem Recht. Allein ein aufregendes Thema, ein substantielles Anliegen, ein lohnendes und lockendes Ziel bewegt Bürger, sich zu aktivieren. Nicht Organisationsreformen als solche, nicht Schnuppermitgliedschaften, nicht Service-Cards oder dergleichen.
Kurzum: Die SPD muss klären, was sie eigentlich will. Sämtliche Organisationsreformen, alle neuen Leute an der Spitze allein werden nicht das Geringste bewegen, wenn die Partei nicht zu der Erkenntnis darüber gelangt, wer sie ist, für wen sie Politik machen will, auf welchem Wege, zu welchem Ziel - und mit welchen Weggenossen.