
Kontrollverlust Alexander Gauland verstehen


Alexander Gauland (beim AfD-Parteitag im Dezember 2017 in Hannover)
Foto: Hannibal Hanschke/ REUTERSIst es an der Zeit, sich über den Gesundheitszustand von Alexander Gauland Gedanken zu machen? Ich fürchte: ja.
Als wir uns beide das letzte Mal sahen, in seinem Stammlokal in Potsdam, sprachen wir über Höcke, Petry und seine Pläne für die AfD nach dem Einzug in den Bundestag. Er redete in diesem unaufgeregten Tonfall, mit dem er noch die erstaunlichsten Einschätzungen so nonchalant präsentiert, als handele es sich um Selbstverständlichkeiten. Seine Gedanken schweiften hin und wieder etwas ab, aber insgesamt erschien er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte.
Das Treffen liegt jetzt zweieinhalb Jahre zurück. Seitdem verfolge ich eine eigentümliche Selbstradikalisierung, die am Wochenende mit dem Versuch, die Nazidiktatur zu einer Fußnote der deutschen Geschichte zu erklären, ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Je länger ich Gauland bei seinen Auftritten zusehe, desto mehr zweifele ich an der Stabilität seiner mentalen Verfassung.
Es heißt, Gauland wisse genau, was er tue, das sei das Schlimme. Hinter den Provokationen stecke Berechnung. Wir Journalisten neigen dazu, hinter allem eine Strategie zu sehen. Zufall oder Überforderung kommt bei uns nicht vor. Es spricht nach meiner Einschätzung sehr viel mehr für die Vermutung, dass der AfD-Vorsitzende denkt, dass er weiß, was er sagt, in Wahrheit aber den Überblick verloren hat.
In einer Reaktion auf seinen Auftritt vor der AfD-Jugendorganisation im thüringischen Seebach hat Gauland erklärt, nichts läge ihm ferner, als die Opfer des Nationalsozialismus zu verhöhnen. Man musste seine Stellungnahme so verstehen, als sei es ihm in Wahrheit darum gegangen, sich in maximaler Weise von Hitler und den Nazis abzusetzen: "Ich habe den Nationalsozialismus als Fliegenschiss bezeichnet", schrieb er, "das ist eine der verachtungsvollsten Charakterisierungen, die die deutsche Sprache kennt." Dies ist eine in jeder Hinsicht erstaunliche Erklärung, die aus meiner Sicht nicht die Beachtung gefunden hat, die sie verdient hätte.
Wir nehmen Menschen zu wenig wörtlich
Wenn man sich den Redeausschnitt ansieht, in dem Gauland auf den Nationalsozialismus zu sprechen kommt, dann lässt die grammatikalische und inhaltliche Struktur der entscheidenden Passage nur den Schluss zu, den alle, die seinen Auftritt verfolgten, gezogen haben, inklusive seiner direkten Zuhörer. Dass er nämlich die Nazizeit in Relation zu anderen Epochen der deutschen Geschichte setzt, es ihm also nicht um eine Verurteilung der Nationalsozialisten, sondern um eine Relativierung der zwölf dunklen Jahre ging.
Gauland hat auch nicht "Fliegenschiss" gesagt, wie es in seiner nachgeschobenen Erklärung heißt, er sprach in Thüringen von "Vogelschiss". Das mag ein banales Detail sein. Aber es führt direkt zum Problem: Wie ist es zu erklären, dass sich ein Politiker schon ein paar Tage später an das zentrale Wort nicht mehr erinnert, das eine Selbsterklärung erst nötig gemacht hat?
Es ist nicht der erste Fall, in dem Gauland sich missverstanden fühlt
Wir nehmen Menschen zu wenig wörtlich, dabei ist dies mitunter der beste Weg zum Verständnis. Ein Mann redet sich um Kopf und Kragen und sagt anschließend, er habe alles ganz anders gemeint. Nicht er liege falsch, sondern diejenigen, die ihn für das, was er gesagt hat, kritisieren.
Eine Möglichkeit ist, dass der Mann recht hat: Er wollte etwas erreichen, in diesem Fall, Hitler beleidigen, aber seine Gegner drehen ihm das Wort im Munde um. Sehr viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass er nicht mehr in der Lage ist, sich so auszudrücken, dass ihn seine Umwelt richtig versteht. So jemanden nennen wir verwirrt.
Es ist nicht der erste Fall, in dem Gauland sich missverstanden fühlt. Ich kann hinter den erzwungenen Berichtigungen keine Strategie erkennen. Worin soll die Strategie liegen, wenn man sich zum wiederholten Mal genötigt sieht, sich im entscheidenden Punkt zu korrigieren?
Die Leute, die man gegen sich hat, werden es für eine Ausflucht halten. Und die Anhänger, die eben noch das Gefühl hatten, dass hier endlich einer für sie den Zweiten Weltkrieg nachträglich gewinnen will, sind enttäuscht, dass der Mann, auf den sie ihre Hoffnungen setzten, von seinem Vorhaben wieder abrückt. In Wahrheit ist nichts gewonnen.
Gauland lebt vom Nimbus, ein kluger Kopf zu sein. Er hat sein halbes Leben im Staatsdienst zugebracht, wo er sich die Reputation eines nachdenklichen Menschen erwarb. Weil er außerdem mit seinen Tweedjacketts und schottischen Lammwollpullovern immer so aussieht, als käme er gerade von der Fuchsjagd, unterstellte man ihm eine gediegene Grundhaltung.
Gauland in Badehose
Am Dienstag verbreitete sich in den sozialen Medien ein Foto , das Gauland zeigte, wie er mit einer Badehose bekleidet in Begleitung einer Polizistin eine Straße in Potsdam heruntergeht. Es entbrannte eine Diskussion, ob man einen 77-jährigen Mann abbilden darf, dem sie beim Baden Hemd und Hose entwendet haben.
Kundige Menschen hatten sogleich Bilder der Kanzlerin im Badeanzug zur Hand, die man, ohne respektlos sein zu wollen, als sehr unvorteilhaft bezeichnen darf, ohne dass die Veröffentlichung zu einer vergleichbaren Diskussion geführt hätte. Andere wiederum sahen in der Verbreitung des Gaulandschen Badehosen-Fotos eine unzulässige Form der Verächtlichmachung eines politischen Gegners.
Ich finde, es spricht nichts dagegen, einen Mann in Badehose zu zeigen, auch wenn er Gaulands Alter erreicht hat. Die deutsche Öffentlichkeit ist schon mit schockierenderen Bildern fertiggeworden. Das Problem an dem Foto war, dass es zeigte, was von Gaulands Erscheinung übrig bleibt, wenn man ihn seiner Tweedjacketts entkleidet: ein Mensch, der so schrecklich orientierungslos wirkt, dass man beinahe Mitleid mit ihm empfinden muss.