Gedenkstätten "Den doppelten Schmerz aushalten"
SPIEGEL ONLINE: Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm hat bei einer Gedenkveranstaltung für Überlebende des Konzentrationslagers Sachsenhausen auch an Deutsche erinnert, die im späteren Sowjetlager interniert waren. Die ehemaligen KZ-Häftlinge waren entsetzt, dass er beides gleichsetzte. Können Sie die Empörung nachvollziehen?
Knigge: Ja, es ist zu Recht protestiert worden. Wenn es sich bei Schönbohms Intervention nicht um einen gezielten Tabubruch gehandelt hat, dann zumindest um eine große Unbedachtheit. Er hat zu ehemaligen KZ-Häftlingen am Tag ihrer Befreiung gesprochen. Das sowjetische Speziallager ist aber nicht identisch mit dem KZ. Die Gedenkstätten Sachsenhausen und Buchenwald stehen für die historisch konkrete, differenzierte Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen und kommunistischer Inhumanität. Deshalb gibt es zum jeweiligen historischen Datum je eigene Veranstaltungen zu den jeweiligen Lagern und für Überlebende. Es gibt also keinen Grund, den Befreiungstag des KZ für eine andere Geschichte zu benutzen.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern unterscheiden sich die Inhaftierungslager? Zumindest hatten die Häftlinge vor und nach 1945 keine Rechte, jeweils ein Drittel von ihnen starb wegen der schlechten medizinischen und hygienischen Umstände.
Knigge: Die nationalsozialistischen KZ sind Zeichen des permanenten Ausnahmezustands und Einrichtungen der Aussonderung, schließlich des Völkermords, an angeblich 'Gemeinschaftsfremden' beziehungsweise 'rassisch Minderwertigen'. Die sowjetischen Speziallager haben einen zweifachen historischen Hintergrund. Sie sind eine Antwort auf den von NS-Deutschland begonnenen Raub- und Vernichtungskrieg, insofern sie zum Beispiel auf das Problem der Alliierten reagieren, NS-Belastete aus dem Verkehr zu ziehen. In der sowjetischen Besatzungszone dienen sie aber auch der Sowjetisierung. Hier haben die Lager auch stalinistischen Charakter. So wird niemals die Belastung im Einzelfall geprüft. Insassen werden menschenunwürdig behandelt und es finden sich in den Lagern neben den Belasteten auch viele Unbelastete.
SPIEGEL ONLINE: Ein gleichzeitiges Gedenken an die Opfer der Nationalsozialisten und der sowjetischen Besatzer ist also ausgeschlossen?
Knigge: Ein pauschalisierendes Gedenken kann es nicht geben. In den Speziallagern gab es Menschen, die mindestens moralisch, in anderen Fällen aber auch im juristischen Sinn, mitverantwortlich für NS-Verbrechen waren. Das ist das Kernproblem für KZ-Überlebende und man würde auch den vielen völlig Unschuldigen in den Speziallagern nicht gerecht, wenn man sie dafür missbrauchte, NS-Belastung wegzuwischen oder weichzuspülen. Die Geschichte der Speziallager muss erinnert werden, aber so, dass stalinistische Inhumanität beim Namen genannt wird, ohne NS-Verbrechen zu relativieren. Dazu bedarf es eines historisch gut informierten, differenzierten Geschichtsbewusstseins.
SPIEGEL ONLINE: Das Innenminister Schönbohm nicht gezeigt hat.
Knigge: Seine Aussage spricht nicht dafür. Es hat immer nationalkonservative Tendenzen gegeben, die Erinnerung an die Speziallager an die des Nationalsozialismus anzugleichen. Ihr geht es um vordergründige Pauschalisierungen. Die konkrete Geschichte verdampft in einem überhistorischen Nirwana. Dabei ist es doch hinsichtlich der Speziallager so, dass Nichtausweichen vor der NS-Belastung die Anklage des Stalinismus erst recht legitimiert.
SPIEGEL ONLINE: Kennen Sie einen konkreten Fall, der dokumentiert, wie unerträglich die Gleichsetzung für ehemalige KZ-Insassen ist?
Knigge: Wer pauschalisiert und sagt, "Gedenkt allen in gleicher Weise", der muss begründen, warum ich in Buchenwald etwa einem Doktor Wischer gedenken soll, einem mörderischen NS-Arzt, der an den sogenannten Euthanasieaktionen beteiligt war. Oder den über 100 KZ-Aufsehern im Speziallager Sachsenhausen. Sie alle haben und das ist anzuklagen unter einer menschenunwürdigen, stalinistischen Praxis gelitten. Gleichwohl lässt sich Wischers Entscheidung für die Euthanasie nicht mit diesem Leid verrechnen. Beide Geschichten sind zu erzählen und der damit verbundene doppelte Schmerz bleibt auszuhalten. Das ist natürlich anstrengender aber für demokratische Geschichtskultur unerlässlich als zu sagen: "Wir verneigen uns vor allen Toten."
Das Interview führte Eva Lodde