Steigende Zahl Geflüchteter Das Leid an der Grenze kommt nach Berlin

Polnische Soldaten an der Grenze zu Belarus
Foto: Dominika Zarzycka / NurPhoto / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Sechs Jahre ist es her, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel Geflüchtete in Deutschland willkommen hieß, dass sie Deutschland erklärte »Wir schaffen das«. Seitdem hat die Kanzlerin dafür geworben, in der EU eine gemeinsame Migrationspolitik zu etablieren. Doch selbst mit der EU-Ratspräsidentschaft hat Deutschland im vergangenen Jahr nichts in diese Richtung bewegen können. Verändert hat sich nichts. Vielleicht sind die Beteiligten sogar zynischer geworden.
Die Meldungen der vergangenen Wochen sind zum Teil alarmierend:
Wie der SPIEGEL in einer Recherche mit anderen Medien kürzlich aufdeckte, drängen griechische und kroatische Spezialeinheiten Geflüchtete an den Grenzen mit »Pushbacks« gewaltsam zurück.
Immer noch harren Schutzsuchende in katastrophalen Zuständen in griechischen Lagern aus, werden Rettungsschiffe von EU-Staaten zurückgewiesen, ertrinken Menschen im Meer.
Belarus nutzt Geflüchtete indes als Waffe gegen die EU und schickt die Schutzsuchenden, die im Land per Flugzeug ankommen, in Shuttles weiter an die polnische Grenze.
Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan fürchteten kürzlich wieder Politiker, dass sich erneut eine Lage wie 2015 ergeben könnte, als Millionen Menschen vor dem Krieg in Syrien flüchteten.
Und aktuell kommen laut Sicherheitskreisen wieder immer mehr Asylbewerber nach Deutschland.
Es sieht ganz danach aus, als würde Migration eines der großen Themen der Ampelkoalition werden. In ihren Sondierungen streiften SPD, Grüne und FDP das Thema bisher allerdings nur. Vor allem die FDP vertritt eine härtere Linie als die Grünen. Hier könnte es noch einigen Zwist geben.
Habeck will Polen bei Verteilung Geflüchteter helfen – FDP lieber abschrecken
So plädierte Grünen-Co-Chef Robert Habeck zuletzt in einem Interview mit der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« für eine EU-weite Unterstützung Polens bei der Aufnahme von Geflüchteten, die über Belarus in das Land kommen. Es brauche einen europaweiten Verteilungsmechanismus für Geflüchtete. »Wir müssen Polen jedenfalls beistehen und die Flüchtlinge aus Belarus in Europa verteilen«, sagt Habeck.
Dabei müsse man auch daran erinnern, dass humanitäre Standards einzuhalten seien. Die rechtskonservative PiS-Regierung in Polen müsse in dieser Frage unterstützt werden, selbst wenn sie sich bisher stets geweigert habe, Geflüchtete aufzunehmen. Es brauche Sanktionen gegen die Fluggesellschaften, die Schutzsuchende nach Belarus brächten, schnelle Asylverfahren und menschenrechtskonforme Rückführungsabkommen. Aber auch legale Wege der Einreise.
Der nordrhein-westfälische Integrationsminister und stellvertretende NRW-Ministerpräsident Joachim Stamp sieht das anders. Er verhandelt für die FDP zum Thema Migration in den Ampelgesprächen. Im Gespräch mit dem Sender »ntv « schlug Stamp anders als Habeck eher eine Form der Abschreckung vor. Seine Idee: Multilaterale Abkommen mit Ländern wie Moldawien, Georgien und der Ukraine. Man könnte den Ländern den Zugang zum EU-Binnenmarkt in Aussicht stellen, wenn die Staaten der EU jetzt in dieser Krise helfen würden. »Wenn diejenigen, die nach Belarus eingeflogen werden, merken, dass sie nicht in Deutschland landen, dann wird das auch sehr schnell aufhören«, sagte Stamp.
Doch noch steht die Ampelkoalition nicht und damit ergibt sich momentan ein Vakuum. Es passiert nicht viel in der Frage. Währenddessen sterben Menschen im Grenzgebiet. Meist an Entkräftung und Unterkühlung.
Seehofer zeigt Verständnis für Grenzbarriere zu Belarus
Bei der Union wird der Ton schärfer. Der jetzige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will die Grenze zu Polen zwar nicht schließen, zeigte zuletzt aber Verständnis für den geplanten Bau einer Barriere an Polens Grenze zu Belarus. Er kündigte an, die Kontrollen im deutsch-polnischen Grenzgebiet zu verstärken. Acht Hundertschaften der Polizei habe er bereits zur Unterstützung der Bundespolizei dorthin entsendet. »Falls notwendig, bin ich bereit, dort noch weiter zu verstärken. Wir werden den Grenzraum und die grüne Grenze zu Polen engmaschig kontrollieren.«
Bereits 2015 hätte das Thema die Union fast zerrissen. Wenn nun das Ende von Merkels Kanzlerschaft ansteht und der Ex-Kanzlerkandidat Armin Laschet seinen Rückzug von der Parteispitze beginnt, wird in der Union neu verhandelt werden müssen. Laschet hatte Merkels Kurs immer gestützt. Auch CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen appelliert bei der Aufnahme Schutzsuchender eher an das christliche Menschenbild.
Parteikollegen wie Gesundheitsminister Jens Spahn und Fraktionschef Ralph Brinkhaus verfolgen eine härtere Linie. Beide haben sich immer wieder gegen einen Alleingang Deutschlands bei der Aufnahme von Geflüchteten ausgesprochen. Sie befürchten angebliche Pullfaktoren – also Anreize für weitere Menschen, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. Brinkhaus erklärte kürzlich, SPD, Grüne und FDP würden die irreguläre Migration mit ihrem im Sondierungspapier geplanten »Spurwechsel« weiter befeuern. Durch diesen sollen in Deutschland lebende Ausländer leichter einen sicheren Aufenthaltsstatus bekommen. Auch Politiker wie Friedrich Merz stehen für einen deutlich strengeren Kurs. Sie glauben, die Union müsse sich auf ihre konservativen Werte besinnen.
Wie sich die Union in ihrer Rolle als Opposition bei dem Thema aufstellen wird, dürfte erheblich davon abhängen, wen sie demnächst als Partei- und Fraktionschef kürt. Wie es aussieht, wird es eine Willkommenskultur im Sinne Merkels nicht noch einmal geben.