Geplatzte Verhandlungen Schwesig gibt Merkel Schuld an Hartz-IV-Pleite

Die Hartz-IV-Verhandlungen sind in der Nacht gescheitert, jetzt wird der Ton aggressiv. SPD-Vertreterin Schwesig holt zum Rundumschlag aus und beschuldigt die Kanzlerin. Merkel sei eine "eiskalte Machtpolitikerin" und habe die Runde absichtlich scheitern lassen.
SPD-Verhandlungsführerin Schwesig: "Darüber bin ich sehr sauer"

SPD-Verhandlungsführerin Schwesig: "Darüber bin ich sehr sauer"

Foto: Wolfgang Kumm/ dpa

Berlin - Es war eine lange Nacht für alle Beteiligten, doch eine Politikerin meldete sich am frühen Morgen als erste zurück - hellwach und überraschend angriffslustig. Fünf Stunden hatten Vertreter von Regierung und Opposition in der Nacht zum Mittwoch um einen Kompromiss im Hartz-IV-Streit gerungen, am Ende platzte die Runde erneut. SPD-Verhandlungsführerin Manuela Schwesig erhebt jetzt schwere Vorwürfe gegen die Koalition - und greift Kanzlerin Angela Merkel direkt an.

Im ZDF-"Morgenmagazin" sagte Schwesig, es sei ganz deutlich zu spüren gewesen, dass die Koalition und Arbeitsministerin Ursula von der Leyen den klaren Auftrag von Merkel gehabt hätten, die Verhandlungen zum Scheitern zu führen.

Die bedürftigen Kinder brauchten aber Unterstützung. "Daran denkt aber Frau von der Leyen nicht und auch nicht die Kanzlerin", sagte die SPD-Vizevorsitzende. "Frau Merkel ist eine eiskalte Machtpolitikerin. Ihr geht es nicht um die Kinder und auch nicht um die Betroffenen. Ihr geht es darum, Ruhe in der Koalition zu haben", fügte Schwesig hinzu. Von der Leyen und Merkel wollten machtpolitische Spielchen. "Darüber bin ich sehr sauer", sagte die SPD-Politikerin.

Die Koalition habe arme Kinder und Zeitarbeiter verraten, das sei ein Riesenskandal, kritisierte Schwesig weiter. Die SPD wolle am Mittwoch im Vermittlungsausschuss und am Freitag im Bundesrat ihre Vorschläge einbringen. Schwesig forderte die Koalition zugleich auf, die von ihr geplanten fünf Euro mehr beim Hartz-IV-Regelsatz sofort auszuzahlen und das bisher auf dem Tisch liegende Bildungspaket umzusetzen.

Von der Leyen sieht Länder in der Pflicht

Ob in Debatten um eine Frauenquote, Präimplantationsdiagnostik oder nun Hartz IV: Schwesig, Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern, ist für markige Worte bekannt, mischt sich in Diskurse regelmäßig mit Gastbeiträgen und Kommentaren ein. Eine solch harsche Kritik an der Kanzlerin ist aber selbst für Schwesig ungewöhnlich.

Auch von der Leyen gab anschließend im "Morgenmagazin" ein Interview, ging aber nicht auf die Vorwürfe Schwesigs ein. Mit Blick auf Teileinigungen in den Gesprächen mahnte die Ministerin: "Das alles jetzt mit den Füßen in den Boden zu treten und nicht anzunehmen, wäre fatal für die Politik."

Ein Kompromiss in der Hartz-IV-Reform scheint nach dem erneuten Platzen der Verhandlungsrunde nun in weiter Ferne: Hauptstreitpunkt in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe ist die Neuberechnung des Hartz-IV-Regelsatzes. Am Mittwoch wollen Union und FDP die bisherigen Angebote im Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag zur Abstimmung stellen. Am Freitag tagt regulär der Bundesrat. Er wird dem Votum voraussichtlich nicht folgen, weil Union und FDP dort ohne eigene Mehrheit sind.

Im Nachrichtensender "N24" drängte von der Leyen auf eine schnelle politische Entscheidung. Die Ministerpräsidenten hätten die Verantwortung für ihre Länder. "Sie sind genauso gefordert wie der Bundestag. Und diese Entscheidung muss jetzt am Freitag her." Von der Leyen ergänzte: "Ich finde, Politik sollte jetzt zusammenstehen, sollte auch zeigen, dass man nicht immer jedes Wunschkonzert kriegen kann, sondern dass man verantwortungsbewusst Armut bekämpft."

FDP-Generalsekretär Christian Lindner wies die Vorwürfe der Opposition zurück. Die Koalition habe ein "großes Paket" geschnürt und sei erheblich auf die Opposition zugegangen, sagte Lindner im Deutschlandfunk.

Jahrestag des Verfassungsurteils

Genau vor einem Jahr, am 9. Februar 2010, hatte das Bundesverfassungsgericht eine transparente Neuberechnung der Hartz-Sätze verlangt. Von der Leyen will eine Erhöhung des Regelsatzes für Erwachsene um fünf auf 364 Euro und ein Bildungspaket für bedürftige Kinder mit Zuschüssen für Schulmaterial, Freizeitaktivitäten und warmes Mittagessen in Schule und Kita.

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Bis zuletzt wurde zum einen über die Berechnung des Regelsatzes gestritten. Die SPD legte ein alternatives Berechnungsmodell vor, um den Vorgaben des Verfassungsgerichts zu entsprechen. Damit wäre die Erhöhung aber auch kaum höher ausgefallen als von der Regierung geplant.

Darüber hinaus blieb die Finanzierung des Bildungspakets bis zuletzt ein Zankapfel. Die Bundesregierung hatte angeboten, die kommunalen Kosten der Grundsicherung im Alter zu übernehmen. Bis 2015 würden die Gemeinden damit um insgesamt zwölf Milliarden Euro entlastet, rechnete von der Leyen vor. Die SPD bezweifelte jedoch, dass die neuen Lasten der Kommunen für das Bildungspaket wirklich gegenfinanziert sind.

Lohnuntergrenzen angeboten

Ein weiterer Streitpunkt waren bis zuletzt Mindestlöhne und Verbesserungen für Zeitarbeiter. Hier bot von der Leyen Lohnuntergrenzen nicht nur für Zeitarbeiter, sondern auch für den Wachschutz und die Weiterbildungsbranche an. Das Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" wollte die Koalition dagegen für mindestens ein Jahr den Tarifparteien überlassen. Erst wenn sich dann keine Lösung abzeichne, solle eine Kommission zur Klärung der Frage eingesetzt werden, sagte von der Leyen. Die SPD wollte dagegen, dass Leiharbeiter bereits nach einem Monat wie die Stammbelegschaft bezahlt werden.

Die Opposition hatte die Reform kurz vor Weihnachten im Bundesrat gestoppt. Seitdem läuft das Vermittlungsverfahren.

amz/dapd/dpa/Reuters/AFP
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