Gerechtigkeit in Deutschland Das ist nicht fair

Putzfrau Jessica Häkel
Foto: Jan Philip Welchering/ DER SPIEGELNur mal angenommen, ein Wesen von einem fremden Planeten würde dieser Tage zufällig in Deutschland Station machen. Es wäre ungeplant zwischengelandet, irgendwo zwischen Berlin und Bottrop, hätte keine der Debatten der vergangenen Monate verfolgt und zappte neugierig durch das Fernsehprogramm. Vermutlich würde es sich wundern, in welch eigenartigem Land es sich befindet - und ob es sich überhaupt um nur eine einzige Nation handelt oder um zwei gänzlich verschiedene.
Da wären zum einen die Bundeskanzlerin und ihre Partei, die sich im Lichte glänzender Statistiken sonnen, die nicht müde werden, das unaufhörliche Wachstum und die Erfolge der deutschen Wirtschaft zu feiern - und deren Mantra lautet, dem Lande gehe es so gut wie selten zuvor. Es ist eine gefällige Gewissheit, eine zahlenunterfütterte Wahrnehmung, die viele Menschen teilen, seit die Arbeitslosenzahlen ziemlich klein und die Haushaltsüberschüsse ziemlich groß sind.
Auf der anderen Seite wäre ihr Herausforderer von der SPD, Kanzlerkandidat Martin Schulz, dessen Kernthese lautet, dass zu viel schieflaufe im Lande der schönen Zahlen, dass es nicht mehr gerecht zugehe, dass viele Menschen sich vor dem Abstieg sorgten und dass es nicht sein könne, dass große Vermögen immer weiter wüchsen, während "es den Schulen ins Dach reinregnet". Es ist ein Gefühl, das genauso weitverbreitet ist bei den Bürgern, ein Unbehagen, das sich ausdehnt und das genauso wahr und richtig ist. Willkommen in Deutschland, dem gespaltenen Land.
Ausgerechnet im Jahr 2017, dem Jahr der Bundestagswahl, erlebt die Republik ein Paradoxon. Fast alle statistischen Daten zeigen, dass es der Nation tatsächlich so gut geht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Gleichzeitig wächst jedoch das unbestimmte Gefühl, dass die Gesellschaft sich auseinanderbewegt. Wie ein großes, schwarzes Loch dehnt sich der Raum zwischen belegten Fakten und dem subjektiven Empfinden aus. Die Befindlichkeit ist zum politischen Faktor ersten Ranges geworden.
Es gibt keine große Partei, die im Wahlkampf nicht darauf einginge. Die SPD verspricht schon im Titel ihres Wahlprogramms "Zeit für mehr Gerechtigkeit", vor allem über sozialpolitische Verheißungen, immer wieder taucht das Wort "Gerechtigkeit" in dem Papier auf. Die Union grenzt sich ab, indem sie das Wort sparsamer verwendet. Das Unbehagen greift sie allerdings ebenfalls auf, wie die SPD verspricht sie Entlastungen für die sich überfordert fühlende Mitte, die CSU auch eine Ausweitung der Mütterrente.
Auf das schwelende, nur schwer greifbare Gefühl gegenüber den gesellschaftlichen Zuständen reagieren die Parteien also so, wie sie es immer getan haben: mit teuren Versprechungen und wohldosierten Zückerchen für ihre Lieblingsklientel. Dumm nur, dass sie damit für neue Ungerechtigkeiten sorgen und die Unsicherheiten hinsichtlich der Zukunft sogar verstärken können.
Wie die Deutschen ticken, weiß kaum jemand so gut wie Michael Sommer. Der 48-Jährige ist Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach und befragt die Bundesbürger regelmäßig nach ihrem Befinden. Die Analysen der Demoskopen vom Bodensee haben Gewicht: In internen Runden erklären sie sowohl Union als auch SPD die Gemütslage der Deutschen. Kurz zusammengefasst lautet die Diagnose: akute Schizophrenie.
Die Republik steuert in den längsten Aufschwung seit Jahrzehnten hinein, schon im achten Jahr in Folge wächst die Wirtschaft. Mit 32 Millionen liegt die Zahl der Beschäftigten auf einem Allzeithoch, nie zuvor gingen im Lande mehr Menschen einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nach als heute.
Schon der Blick in das eigene Portemonnaie dürfte viele Bürger optimistisch stimmen: Nach Jahren der Abstinenz steigen die Löhne wieder, und nicht nur Gutverdiener profitieren. Seit 2010 klettern auch die realen Stundenlöhne für Geringverdiener, wie eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigt.
Seit 2012, so konstatiert Sommer, ist die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrer eigenen Situation tatsächlich gewachsen. 62 Prozent der Befragten stufen ihre materielle Lage als gut oder sehr gut ein. Im Vergleich zur Situation vor fünf Jahren sieht sich jeder Dritte als Wohlstandsgewinner. So weit alles gut also? Mitnichten.
Denn die Umfragen zeigen noch etwas anderes. So sorgen sich die Deutschen, dass vom wachsenden Wohlstand nicht alle gleichermaßen profitieren. In weiten Teilen der Bevölkerung, sagt Sommer, gebe es "ein großes Unbehagen über die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten". Beispielsweise halten nur 20 Prozent der Deutschen die Verteilung von Einkommen und Vermögen für gerecht. Und je schwächer die soziale Schicht, desto eher wachsen Zweifel, ob die gesellschaftliche Lage tatsächlich so brillant ist, wie es die Rekordzahlen der Volkswirte glauben machen wollen.
Neben offizielle Statistiken und Wirtschaftsdaten ist längst eine neue Größe getreten. Soziologen sprechen von einer "eigenständigen Dimension der Realität". Es ist die gefühlte Ungerechtigkeit.
Aber woher kommt diese Diskrepanz zwischen Gefühl und Wirklichkeit in der Wahrnehmung vieler Bürger? Und wie gerecht ist Deutschland tatsächlich?
Gerechtigkeit ist ein Empfinden, das den Menschen innewohnt. Zu den ersten Sätzen, die Kinder beherrschen, gehört: "Das ist ungerecht!" Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass schon Kleinkinder im Alter von 15 Monaten bemerken, wenn Belohnungen ungleich verteilt werden. Bereits Drei- bis Fünfjährige besitzen einen ausgeprägten Sinn für Fairness und setzen sich für Opfer mangelnder Gerechtigkeit ein.
Doch schon an diesem Punkt enden die Gewissheiten. Seit der griechischen Antike beschäftigt nicht nur Philosophen die Frage, was gerecht ist. Und die Antwort darauf fällt bis heute sehr unterschiedlich aus, wie die Protokolle von Gesprächen zeigen, die der SPIEGEL mit unterschiedlichsten Menschen geführt hat - vom hoch dotierten Lufthansa-Piloten aus Frankfurt über den Familienvater aus dem Rheinland bis hin zur Reinigungskraft aus der Sozialsiedlung in Bottrop.

Jessica Häkel
Reinigungskraft
32 Jahre, Bottrop
"Vielleicht bin ich einfach in der falschen Ecke groß geworden. Die Siedlung Bottrop-Borsigweg hatte schon früher keinen guten Ruf. Man hatte hier immer viel mit Obdachlosen zu tun. Sobald man gesagt hat, wo man herkommt, wurde man verurteilt.In Deutschland haben nicht alle die gleichen Chancen. Ich habe die Hauptschule ohne Abschluss verlassen, und dann hatte ich nicht mehr viele Möglichkeiten. Über Wasser gehalten habe ich mich mit Nebenjobs. Als ich mit 20 meine erste Tochter bekommen habe, wollte ich wenigstens ein paar Straßen weiter wegziehen, auch wegen der Kinder.Meine Töchter sind heute sechs und zwölf Jahre alt. Vormittags arbeite ich als Reinigungskraft, genau wie meine Mama früher. Dass ich arbeite, hat auch mit meinen Töchtern zu tun, damit die sehen, dass wir nicht faul sind, dass wir unseren geregelten Tag haben und dass man seinen Weg gehen kann.Ich arbeite auf 450-Euro-Basis, mein Mann bekommt in Vollzeit 1800 Euro netto. Er war mal Zeitarbeiter, jetzt hat er einen Festvertrag. Wir zahlen 800 Euro Miete, dazu Strom und Versicherungen, und ein Auto braucht mein Mann für die Arbeit auch. Da bleibt am Ende des Monats nicht viel über.Wenn man zum Amt geht, lebt man günstiger. Man kriegt das Monatsticket für den Bus billiger, Zuschüsse für das Schulessen. Als meine erste Tochter klein war und ich noch vom Amt gelebt habe, haben die alles bezahlt. Heute zahlen wir fast alles selbst. Im vergangenen Jahr habe ich für zwei Bücher 40 Euro bezahlt, und die Kinder brauchen ja auch noch Stifte und Hefte. Würde ich noch vom Amt leben, bekäme ich Schulbedarfsgeld dafür. Ich finde das nicht fair. Jedes Kind sollte dem Staat gleich viel wert sein.Ich suche jetzt wieder. Wenn meine jüngste Tochter in die Schule kommt, kostet die Nachmittagsbetreuung 80 Euro, das zahlt das Amt ja auch nicht. Vielleicht finde ich einen zweiten Job.Meine Töchter sind klug. Ich wünsche mir, dass sie alle Chancen haben, genauso viele wie alle anderen Kinder. Das ist für mich Gerechtigkeit."
Gerechtigkeit ist ein schillernder Begriff, erst recht, wenn es um die Frage geht, ob die Einkommen und Vermögen, die Rechte und Möglichkeiten in einer Gesellschaft fair verteilt sind.
Das Problem beginnt schon damit, dass die Begriffe durcheinanderwirbeln; dass "Gerechtigkeit" gesagt wird und "Gleichheit" gemeint ist. Doch nicht jede Gleichheit ist gerecht, nicht jede Ungleichheit automatisch ungerecht. Vor allem: Was eine Gesellschaft als gerecht definiert und welche Rolle sie dem Staat dabei zuweist, kann sich über die Zeitläufte ändern.
In der Bundesrepublik ist die Forderung nach Sozialstaatlichkeit in der Verfassung verankert. Nach dem Krieg bestand die Gerechtigkeitsverheißung des Wirtschaftswunderlandes in der Solidarität der Gleichen - darin, dass jeder, der beim Wiederaufbau half, eine Chance auf Aufstieg hatte. Als Ende der Sechzigerjahre der Ausbau des Sozialstaates zum Wohlfahrtsstaat begann, lautete das Versprechen, dass niemand um das Erreichte bangen müsse, auch wenn die Fährnisse des Lebens ihn einmal treffen sollten.
Doch in den Neunzigerjahren begann die Politik, ihr Verständnis von Gerechtigkeit neu zu definieren. Die beschleunigte Globalisierung setzte die Sozialsysteme unter Druck, auch in Deutschland. Es war der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, der mit seiner Agenda 2010 zu Beginn des neuen Jahrtausends eine grundlegende Reform auf den Weg brachte. Seitdem sichert der Sozialstaat nicht mehr den Lebensstandard, sondern vor allem die Existenz. Seither schwelt auch die politische Debatte über Gerechtigkeit.
Neue, flexiblere Beschäftigungsformen führten zu dem Jobboom, der heute die Statistiken vergoldet, allerdings hat das Wunder seinen Preis. Jeder fünfte Beschäftigte arbeitet heute im sogenannten Niedriglohnsektor. Die Folgen lassen sich bundesweit besichtigen.
Der Bundesverband Deutsche Tafel, der im ganzen Land abgelaufene, aber genießbare Lebensmittel an Bedürftige verteilt, berichtet, dass nicht nur Rentner und Hartz-IV-Familien auf die Ausgabestellen angewiesen sind. Der Anteil der Erwerbstätigen unter den Abholern steige beständig - und das gilt sogar für gesunde Wirtschaftsregionen.
"Alle Statistik nutzt nichts, wenn man selbst zu wenig verdient oder keinen Job findet und nichts zu essen hat", sagt Helmut Doyen. Er organisiert mit 290 Ehrenamtlichen die Tafel im Nürnberger Land, dem Speckgürtel der Metropole. In Schwarzenbrück herrscht an diesem Juli-Dienstag geräuschvolle Enge. Es ist Ausgabetag. Doch niemand der "Abholer", wie Doyen sie nennt, soll sich als Bittsteller fühlen. Bevor sie sich bei Milch, Joghurt, Wurst und Gemüse bedienen dürfen, gibt es für die Gäste Kaffee und Kuchen. Pro Einkauf müssen die Kunden drei Euro beisteuern. "Wir helfen, aber wir vergeben keine Almosen", sagt Doyen. Es gehe darum, einen Rest Würde zu bewahren.
Wer hierherkommt, leidet unter einer doppelten Scham. Der Scham, es nicht durch eigene Anstrengung geschafft zu haben. Und der Sorge, als Sozialfall bekannt und beschämt zu werden. Es gibt alleinerziehende Mütter, die ihre bescheidenen Löhne mit Hartz IV aufstocken und aus 20 Kilometer entfernten Städten anreisen, damit sie nicht von ihren Nachbarn gesehen werden. Viele Kunden scheuen den Gang zum Amt. Wer als Alleinstehender weniger als 900 Euro im Monat zur Verfügung hat, hat Anspruch auf den Tafelausweis.
Es ist kein Zufall, dass die Themen Gerechtigkeit und gefühlte Wahrnehmung seit den Neunzigerjahren Karriere als eigenständiger Forschungsgegenstand der Wissenschaft machten. Für klassische Marktökonomen waren solche Fragen lange Zeit eher nebensächlich. Gerechtigkeit spielte eine untergeordnete Rolle, optimal war, was der Markt hervorbrachte. Friedrich August von Hayek, einer der wichtigsten neoliberalen Ökonomen, brachte es so auf den Punkt: "Mehr als zehn Jahre habe ich mich intensiv damit befasst, den Sinn des Begriffs ,Soziale Gerechtigkeit' herauszufinden. Der Versuch ist gescheitert." In den letzten Jahrzehnten öffnete eine neue Generation von Ökonomen ihr Fach für Erkenntnisse aus Psychologie, Verhaltensforschung oder Neurowissenschaften. Sie stellen in Rechnung, dass der Mensch eben nicht immer als rationaler Homo oeconomicus handelt, sondern dass es auch um Faktoren wie Persönlichkeit und Fairnessempfinden geht.

Winfried Streicher
Lufthansa-Pilot
58 Jahre, Frankfurt am Main
"Ich bin einer von denen, die von der Boulevardpresse als Gutverdiener nach vorn geschoben werden. Mit rund 215000 Euro im Jahr bin ich heute auf einem hohen Niveau, da kann man nicht meckern.Es ist normal, dass die hohen Gehälter in der Öffentlichkeit kritisiert werden. Aber das eigentliche Problem ist nicht, dass wir Piloten zu viel bekommen, sondern dass es viele Berufe gibt, in denen die Leute für das, was sie tun, zu wenig verdienen.Mein Vater war ein kleiner Angestellter und konnte von seinem Gehalt eine sechsköpfige Familie ernähren. Heute sehe ich in Frankfurt lauter Akademiker, die zwei Kinder haben, beide arbeiten und kaum über die Runden kommen.Es galt einmal, dass es einen fairen Ausgleich zwischen Aktionären, Mitarbeitern und Kunden geben muss. Aber wenn ich sehe, wie schwach heute die Gewerkschaften sind und wie gering die Solidarität, bekomme ich ein mulmiges Gefühl.In der heilen Lufthansa-Welt geht es uns noch vergleichsweise gut. In den Grenzbereichen der Branche sieht es düster aus. Bei manchen Billigairlines wird erst die Ausbildung finanziert, und hinterher heißt es: Du fliegst entweder für so gut wie nichts, oder wir verlangen die Rückzahlung sofort.Das Übertragen des unternehmerischen Risikos auf das Individuum ist ein zentrales Problem in unserer Gesellschaft. Das gilt für die Putzfrau, die einen Zweitjob macht, weil sie von einem Gehalt nicht leben kann, genauso wie für den Piloten, der als Scheinselbstständiger bei Bedarf angerufen wird und raus ist, wenn er zweimal nicht kann. Dieser finanzmarktgetriebene Raubtierkapitalismus ist die größte Gefahr. In Deutschland ist das System noch einigermaßen vernünftig. Aber wir müssen den Standard verteidigen.Wir sollten uns fragen, wie wir Systeme schaffen, die ein auskömmliches Leben für alle produzieren, ohne dass wir immer mehr Ressourcen beanspruchen. Das wird irgendwann das Ende des Luftverkehrs in der heutigen Form bedeuten. Ich rate meinem Sohn daher davon ab, Pilot zu werden. Obwohl ich es genossen habe."
Der Bielefelder Soziologe Stefan Liebig ist Gerechtigkeitsforscher. Seit mehr als 15 Jahren wertet er unterschiedliche Haushaltsbefragungen aus, um zu erfahren, wie zufrieden die Deutschen mit ihrem Einkommen und der Einkommens- und Vermögensverteilung im Land sind. Die Gleichzeitigkeit von Zufriedenheit und Ungerechtigkeitsempfinden sei kein Widerspruch, konstatiert Liebig. Denn Gerechtigkeit sei ein subjektiver Begriff.
Welche Empfindung überwiegt, hängt davon ab, mit wem sich die Bürger vergleichen. Wenn Liebig allgemein fragt, ob die Vermögen und Einkommen in Deutschland gerecht verteilt sind, antwortet eine überwältigende Mehrheit mit Nein - weil sie auch umstrittene Millioneneinkommen von Spitzenmanagern als Referenzgröße wählen. Doch bei ihrem eigenen Lohn ist für die Bürger der direkte Vergleich mit den Kollegen im Betrieb entscheidend. "Wenn es um das eigene Erwerbseinkommen geht, ist das Ungerechtigkeitsempfinden nicht dramatisch gestiegen", sagt Liebig, "nach der Einführung des Mindestlohns hat es sich 2015 in den untersten Einkommensgruppen sogar etwas verringert." Der Wissenschaftler glaubt, dass die Bürger weiter sind als große Teile der Politik. "Die meisten Menschen wissen, dass soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit zwei unterschiedliche Dinge sind", sagt Liebig. "Die überwältigende Mehrheit ist der Ansicht, dass diejenigen, die viel leisten, auch mehr erhalten sollten und umgekehrt."

André Nitsche
Facharbeiter
53 Jahre, Görlitz
"Ich bin hier nie weggezogen. Ich bin in Görlitz zur Schule gegangen, habe hier meine Lehre als Maschinen- und Anlagenmonteur absolviert. 1986 habe ich beim VEB Waggonbau angefangen. Ich bin seit 31 Jahren Facharbeiter im Waggonbau.Die Zeit nach der Wende war eine Zeit der Existenzangst, es gab Entlassungen in Massen. Von den 3500 Beschäftigten beim Waggonbau blieben etwa 1300 Leute übrig. Seit 1998 gehören wir zum kanadischen Konzern Bombardier. Anfangs sah es gut aus. Jetzt haben wir wieder Unsicherheit. Der Konzern will sich neu aufstellen, damit stand Görlitz auf der Kippe. Wir haben mit Erfolg protestiert. Das Werk bleibt erst mal. Danach ist alles offen.Es geht mir heute aber besser als früher. Wir hatten zu DDR-Zeiten andere Probleme. Wir waren die ganze Woche mit einkaufen beschäftigt. Montags gab es das, dienstags das. Allerdings war man zufriedener. Man musste sich keine Gedanken um den Arbeitsplatz machen. Man konnte Kinder in die Welt setzen, ohne sich fragen zu müssen: Kann ich mir das leisten?In meinem Leben ging es im Großen und Ganzen gerecht zu. Aber man erlebt genügend Ungerechtigkeit. Das geht los, wenn man sich mit den Leuten unterhält, die nicht das Glück haben, bei Bombardier zu arbeiten, sondern in kleinen Metallbuden. Da gehen Facharbeiter mit 30 Jahren Berufserfahrung mit 1200 Euro heim. Da machst du keine großen Sprünge. Die sagen zu uns: Ihr verdient ja so ein Schweinegeld. Sie haben recht. Ja, wir verdienen ein Schweinegeld. Wir haben einen IG-Metall-Tarifvertrag. Ein Facharbeiter, der schon ein paar Jahre bei uns arbeitet, bekommt mit all seinen Leistungszulagen schon 2000 bis 2300 Euro netto.Ich finde es ungerecht, wenn Leute 40 Stunden in der Woche arbeiten und dann aufs Amt müssen, um Wohngeld zu beantragen. Oder sauber machen gehen müssen. Oder wenn Kinder kein Abitur machen oder nicht studieren können, weil die Eltern sagen, wir haben nicht das Geld dafür. Wenn Leuten, die auch intelligent sind, dieser Weg verbaut wird."
Wenn es um Gerechtigkeit geht, hadern die Deutschen daher in Wahrheit weniger mit Fragen der Einkommensverteilung. Für sie ist eine ganz andere Frage entscheidend: Fair geht es in einer Gesellschaft vor allem dann zu, wenn alle Menschen die gleichen Chancen auf Aufstieg haben. Das Problem ist nur, dass diese Definition im Wahlkampf meistens untergeht.
Der Verhaltensökonom Armin Falk beschäftigt sich schon lange mit diesem Phänomen. Der Direktor des Behaviour and Inequality Institute sitzt in seinem Büro in einer Villa mit Blick auf den Rhein unweit des ehemaligen Kanzleramts in Bonn - dort also, wo über Jahrzehnte die alte Bundesrepublik regiert wurde, als es noch darum ging, möglichst viel zu verteilen.
Neben seinem Schreibtisch hängt eine große Schiefertafel voller Stichwörter und Formeln, mit weißer Kreide geschrieben, Skizzen für künftige Forschungsprojekte. Mit dem Muff der Bonner Jahre hat Falk nichts mehr zu tun.
Falk gehört zur neuen Generation der experimentellen Wirtschaftswissenschaftler. Sein Thema ist die Persönlichkeit und die Ungleichheit. Er hat Menschen in den Kernspintomografen gesteckt, um festzustellen, welche Reaktionen gerechte und ungerechte Belohnungen bei einer Tätigkeit im Gehirn auslösen. In einem anderen Experiment zeigte er, dass als unfair empfundene Löhne das Herz rasen lassen.
Folgt man Falk, dann hat sich die alte Logik des Gerechtigkeitswahlkampfs, in der es darum geht, immer neue Subgruppen mit Versprechungen zu bedienen, längst überholt. Schlimmer noch: Populisten verstärken die unguten Gefühle sogar, weil sie das Thema Gerechtigkeit als Kampfmittel instrumentalisieren. "Ständig Partei für den kleinen Mann oder die belastete Mittelschicht zu ergreifen führt zu einer paradoxen psychologischen Dynamik." Um die Ungleichheit zu bekämpfen, müssten die Politiker sie immer wieder aufs Neue betonen. Statt das Ungerechtigkeitsempfinden der Bürger zu beruhigen, feuerten sie es an. "Der viel radikalere und effizientere Ansatz wäre, die Chancengerechtigkeit in den Vordergrund zu stellen", sagt Falk, "denn die größte Ungerechtigkeit ist das Glück der Geburt." Und niemand würde widersprechen.
Tatsächlich beginnt die Ungleichheit bereits im Mutterleib. Wie der Reichtum wird auch die Armut in Deutschland vererbt. Je schlechter die materielle Lage der Eltern, desto geringer sind auch heute noch die Bildungschancen der Kinder. Noch immer studieren hierzulande vor allem Kinder, deren Eltern selbst Akademiker sind. Und von der Bildung hängt es ab, ob ein Mensch später einmal Karriere macht und was er verdienen wird.
Wenn es um soziale Dynamik und Aufstieg geht, ist das Land bestenfalls internationales Mittelmaß - mit einer verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit und damit Menschen, die eine geringere Chance auf das Versprechen der alten Bundesrepublik haben, dass es wenigstens ihrem Nachwuchs einmal besser gehen würde.
"Der Zusammenhang zwischen Elternhaus und Chancen nimmt nicht ab", sagte die Sozialforscherin Jutta Allmendinger, Chefin des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB), als sie Ende Juni auf dem Armutskongress in Berlin sprach. "Mein Sohn wusste schon vorgeburtlich, dass er einmal das Abitur machen wird." Cornelia Kavermann kümmert sich um Kinder in einer Gegend, in der es nur die wenigsten zum Abitur schaffen. Seit Anfang der Achtzigerjahre betreut die Sozialpädagogin in Bottrop benachteiligte Familien. "Jeder Mensch ist gleich viel wert", das ist der Leitsatz ihrer Arbeit. Allerdings hat die Sache einen Haken: "Die Chancen der Menschen sind sehr ungleich verteilt." Und hier in der Siedlung Borsigweg sind sie ziemlich klein.
Früher dienten die Wohnriegel aus dunklem Ziegelstein als Unterkunft für Obdachlose, heute wohnen hier Flüchtlinge, Sozialfälle und Menschen mit sehr kleinem Einkommen. Kavermann kann sich an beinahe jedes Kind erinnern, das es in den vergangenen Jahrzehnten von hier bis zum Studium schaffte. Es waren nicht viele. "Jedes von ihnen hätte für diesen Kraftakt den Nobelpreis verdient", sagt Kavermann. Nur die wenigsten Kinder können für die Schule Unterstützung von Mama und Papa erwarten. Das beginnt schon damit, dass viele Eltern hier mit der Hilfe bei den Hausaufgaben schlicht überfordert sind.
Das Mindeste, was sie sich von der Politik wünsche, sagt Kavermann, sei, alle Schulen zu Ganztagsschulen mit einem guten Programm auszubauen und mit der Förderung schon in der Kita in kleinen Gruppen zu beginnen.

Julia Egbers
Doktorandin
32 Jahre, Oldenburg
"Ich arbeite an der Universität Oldenburg - obwohl die Arbeitsbedingungen an einer Schule deutlich besser wären. Meine Fächer sind Latein, Geschichte und Philosophie. Als Lehrerin wäre ich vermutlich mittlerweile verbeamtet, privat krankenversichert und würde mehr verdienen als an der Uni. Ich habe mich hingegen entschlossen, weiterhin wissenschaftlich zu arbeiten, und forsche seit drei Jahren am Institut für Pädagogik. Ich habe mich bewusst dafür entschieden. Gerecht finde ich die Unterschiede zwischen Schule und Universität trotzdem nicht, unabhängig von meiner eigenen Situation.Mein erster Vertrag läuft im September aus. Ich habe Glück, dass ich einen neuen Vertrag für weitere zwei Jahre bekommen habe und die Zusammenarbeit mit meinen Professorinnen fortgeführt wird. Mir geht es damit wie vielen Kollegen in der Wissenschaft. Befristete Verträge sind die Regel, es gibt kaum Planungssicherheit. Die Fluktuation bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern ist hoch. Absurderweise trifft es mit den Universitäten einen wesentlichen Teil unseres Bildungssystems.Viele meiner Freunde aus dem Studium oder dem Referendariat wurden bereits verbeamtet, bauen oder kaufen jetzt ein Haus, bekommen Kinder. Mitarbeiter an der Universität haben solche Planungssicherheit oftmals nicht. In zwei Jahren entscheide ich erneut über meinen beruflichen Weg. Ob ich an der Universität bleibe, hängt dann auch vom jeweiligen Stellenangebot ab. Ich würde gern weiterhin forschen, die Arbeit mit den Kollegen macht mir Freude, und künftige Lehrkräfte auszubilden ist eine tolle Aufgabe. Gleichzeitig möchte ich auch irgendwann berufliche Stabilität.Ich bin nicht sicher, ob es weniger gerecht zugeht als noch vor einigen Jahren. Was sich aber verschlechtert hat, ist das Solidaritätsgefühl. Ein Beispiel: Es gibt durchaus Personen und Initiativen, die sich für bessere Arbeitsbedingungen an den Unis einsetzen. Aber man merkt auch, dass diese in einem System handeln, das ein Miteinander strukturell eher behindert als fördert. Das finde ich sehr schade."
Dass es vor allem um präventive Bildungspolitik gehen müsse, um Chancen für alle zu schaffen, da sind sich die Experten einig. Deutschland ist ein Land, das prosperiert, aber zu einer modernen Variante des Ständestaates zu werden droht. Mit denen da oben und denen unten. Und einer Mittelschicht dazwischen, unter Druck und mit Abstiegsängsten, weil sie weiß, dass der Weg von oben nach unten kürzer ist als der von unten nach oben.
Das wäre den Streit der Parteien wert: Wer die besten Konzepte anbietet, wie man Ungerechtigkeit bekämpft, bevor sie überhaupt entsteht - weil der Staat sie in einer komplexen Welt später längst nicht mehr ausgleichen kann.
Doch im Jahr 2017 führen die Parteien einen Wahlkampf wie aus vergangenen Zeiten. "Die Politik bedient die alten Muster von Verteilungsgerechtigkeit", sagt Wissenschaftler Liebig. Ein Phänomen, das sich vor allem bei den Wahlkampfklassikern der Volksparteien besichtigen lässt.
Die CSU hat sich ihre Forderung nach einer Ausweitung der Mütterrente für ältere Wählerinnen in ihren Bayernplan geschrieben. Ein Manöver, das so durchsichtig ist, dass selbst die Kollegen von der CDU genervt die Augen rollen. Fast sieben Milliarden Euro jährlich würde das Vorhaben kosten, es wäre eines der teuersten Versprechen der Wahlsaison.
Die CDU würde die Milliarden lieber anders unter das Volk bringen. Sie will den Fokus auf Steuerentlastungen und Familien legen. Das Kindergeld soll um 300 Euro pro Kind und Jahr für alle steigen. Wohlsituierte Paare umwirbt sie mit einem Baukindergeld von jährlich 1200 Euro, für Familien sollen Freibeträge bei der Grunderwerbsteuer für den Kauf der ersten Immobilie eingeführt werden.
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz startete den Wahlkampf mit dem Versprechen, das Arbeitslosengeld künftig unter bestimmten Voraussetzungen wieder länger zu bezahlen. Im Juni legte die SPD mit dem Versprechen nach, die Renten bis 2030 auf dem aktuellen Niveau einzufrieren. Wer heute schon auf eine auskömmliche Rente hoffen darf, der wird trefflich profitieren, da das Niveau nicht weiter sinkt. Wer nur knapp über die Runden kommt, für den wird wenig besser.
Wer sich durch die Wahlprogramme liest, kann viele weitere Beispiele und nur wenige Ausnahmen finden. Immerhin kann sich die SPD zugutehalten, mit einem neuen Erwerbstätigenkonto für mehr Chancengerechtigkeit sorgen zu wollen. Auf die Ängste der Stammwählerschaft in der Mitte reagiert die Politik vor allem mit teuren Verheißungen, die meist eine ohnehin schon vergleichsweise gut abgesicherte Klientel bedienen. Das bestehende Unbehagen dient als Vorwand, um Geschenke an ihre Stammwählerschaft zu verteilen.
"Wahlen werden nicht an den Rändern der Gesellschaft gewonnen, sondern in der Mitte", schrieb im Frühjahr Georg Cremer, der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes. Deshalb würden im Wahlkampf vorrangig die Gerechtigkeitsthemen der Mitte angesprochen: "Es besteht die Gefahr, dass die Belange der Armen rhetorisch missbraucht werden."

Karl Dort
Rentner
64 Jahre, Pyrbaum
"Es ist schlimm, wenn man alt wird. Im Januar bin ich in Rente gegangen. Ich bekomme jetzt 640 Euro Altersrente, dazu 65 Euro Wohngeld für meine Einzimmerwohnung, mehr nicht. Auf dem Amt betteln will ich nicht, lieber suche ich einen Minijob. Im Juli gibt es eine Rentenerhöhung, dann kriege ich vielleicht drei oder vier Euro mehr im Monat. Da lache ich mich doch kaputt.Was ich zum Essen brauche, hole ich mir jeden Dienstag bei der Tafel Nürnberger Land. Die Lebensmittel sind abgelaufen, aber noch gut. Was soll's? Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal auswärts essen war. Kann ich mir nicht leisten, schon lange nicht mehr. Ich habe auch keinen Fernseher mehr, der ist kaputtgegangen.Früher habe ich als Maschinist und Baggerführer gearbeitet, aber die letzten Jahre habe ich Hartz IV bekommen. Das ist das Problem. Ich habe es wirklich versucht, ich habe immer wieder gearbeitet zwischendurch. Mal ganz kurz, mal für ein Jahr. Ich habe Stapler gefahren, Container ausgeladen. Das Jobcenter hat Zuschüsse an die Arbeitgeber gezahlt, aber keiner hat mich länger genommen. Am Ende wollen die immer die Jungen, weil die angeblich besser reagieren. Das ist nicht richtig.Ich komme zurecht, aber ich habe nicht viel. Vielleicht ist das sogar gerecht: In die Rentenkasse habe ich halt nicht viel eingezahlt, die letzten Jahre überhaupt nichts. Wenn man Hartz IV bekommt, übernimmt das Amt keine Rentenbeiträge. Wenn man Probe arbeitet und dafür keinen Cent sieht, zahlt der Arbeitgeber auch nichts ein. Ein-Euro-Jobs für die Kommunen bringen auch nix. Wo soll da heute eine Rente für mich herkommen? Das ist doch die Sauerei! Die Arbeitgeber schwimmen im Geld, und ich schwimme in Schulden.Die Politiker reden viel über die Grundrente. Vielleicht hätte ich damit sogar mehr Geld als heute. Aber das wäre nicht fair. Das geht doch nicht, dass alle die gleiche Rente kriegen, egal ob sie viel oder wenig eingezahlt haben. Das Problem ist doch, dass die Leute nicht so anständig entlohnt werden, dass es später für die Rente reicht! Das regt mich wirklich auf."
Für die Parteien kann sich das am Wahltag kurzfristig sogar auszahlen. Gerade erst hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung eine Studie zum Wählerverhalten verschiedener Schichten veröffentlicht. Das Ergebnis: CDU/CSU und SPD balgen sich um die Wähler mit mittlerem Einkommen. Die Wohlhabenden und Besserverdienenden wählen sowieso die Grünen und die FDP. Die neuen Arbeiterparteien für Menschen mit niedrigerem Einkommen heißen heute AfD und Linke. Und wer wenig oder nichts verdient, geht achtlos am Wahllokal vorbei, weil er das Gefühl hat, dass sich für ihn ohnehin nichts ändern wird.
Vor allem die Menschen am unteren Rand der Gesellschaft, die auf Aufstieg nicht mehr hoffen, haben sich von der Politik schon lange abgewendet.
Der Politologe Armin Schäfer von der Universität Osnabrück hat vor zwei Jahren eine erschreckende Untersuchung vorgelegt. Seit den Achtzigerjahren sinkt die Wahlbeteiligung, aber sie sinkt nicht gleichmäßig. Einkommensstarke mit höherer Bildung gehen fast genauso zur Wahl wie früher. Allerdings verzichten Menschen mit niedriger Bildung häufiger darauf, am Wahltag ihr Kreuzchen zu setzen. Die Nichtwähler ballen sich in Wohnquartieren mit niedrigem Durchschnittseinkommen und verfestigter Arbeitslosigkeit. Es ist ein "partieller Selbstausschluss", wie die Soziologen das nennen.
Die Interessen der ärmeren Schichten werden damit von der Politik nicht mehr vertreten. Längst ist ein Teufelskreis entstanden: Wer sich nicht repräsentiert fühlt, geht nicht mehr wählen. Und wer nicht wählen geht, wird nicht mehr repräsentiert, der taucht auch in der politischen Gerechtigkeitsdebatte kaum noch auf. Für die Demokratie ist das eine Gefahr.
Die Große Koalition ist sich des Problems bewusst, würde es aber lieber ignorieren. Als Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) im vergangenen Jahr den fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zusammenstellte, da enthielt die erste Fassung noch eine Passage zur "Krise der Repräsentation". Politologe Schäfer hatte mit einer neuen Studie die Vorlage dafür geliefert. Personen mit geringerem Einkommen, hieß es noch im Nahles-Entwurf, "verzichten auf politische Partizipation, weil sie Erfahrungen machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert".
Doch auf Druck des Bundeskanzleramts und anderer unionsgeführter Ministerien wurde der Satz gestrichen. Verschwunden ist nach der Ressortabstimmung auch die Aussage, in Deutschland beteiligten sich Bürger "mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen". Es war ein Urteil, dem kein Gerechtigkeitsforscher widersprochen hätte: Es bildet sich ein verfestigtes Prekariat, das von der Politik ignoriert wird.

Thomas Leisen
Musiker
41 Jahre, Siegburg
"Das Schwarze auf der Steuererklärung wird immer mehr - aber es kommt einfach nicht bei uns an. Ich bin selbstständiger Gitarrenlehrer in Siegburg. In unserem Einfamilienhaus habe ich einen kleinen Unterrichtsraum eingerichtet und arbeite dazu noch als Musiker. Meine Frau Daniela ist Angestellte in einem IT-Betrieb. Wir haben drei Kinder, unsere Tochter Antonia und die Zwillinge Benjamin und Niklas.Seit Jahren arbeiten meine Frau und ich immer härter und immer länger, zusammen kommen wir locker auf mehr als hundert Stunden pro Woche. Trotzdem müssen wir zusehen, wie sich unser Lebensstandard immer weiter verschlechtert. Zum Beispiel haben wir gerade die Zwillinge aus der Nachmittagsbetreuung abmelden müssen. Die 300 Euro im Monat sind einfach zu viel für uns. Das ist doch absurd: Für arbeitende Ehepaare wie uns, Leistungsträger der Gesellschaft, um es mal so zu sagen, ist die Betreuung doch eigentlich gedacht - und ausgerechnet uns reicht das Geld nicht.Das Problem sind nicht die Einnahmen. Wer sich anstrengt, der kann auch heute noch gutes Geld verdienen, da geht es gerecht zu. Wo sich etwas ändern muss, ist bei den Belastungen. Die lebensnotwendigen Dinge werden immer teurer. Gas und Strom, aber auch die Gebühren für Wasser. Das Planschbecken im Garten füllen wir im Sommer gar nicht mehr auf. Die Grundsteuer ist in Siegburg vor zwei Jahren um mehr als 70 Prozent erhöht worden. Das trifft jeden, der ein Haus hat.Bei uns geht es sicherlich gerechter zu als in vielen anderen Ländern auf der Welt. Aber das ist ja kein Freibrief, hier nichts mehr zu ändern. Von der Politik erhoffe ich mir allerdings nicht mehr viel. Ich bin seit Jahren hier in einer Bürgerinitiative. Ich habe erlebt, wie die Verantwortung für Missstände einfach weitergereicht wird. Die Kommune gibt dem Land die Schuld, und das Land dem Bund. Ich glaube, die Politiker wollen unsere Probleme gar nicht angehen. Der Bürger spielt im politischen System keine Rolle. Im September gehe ich zur Wahl, aber mit großem Widerwillen."
Ob Deutschland ein gerechtes Land ist, darf daher mit Recht bezweifelt werden. Und an dieser Stelle trügt das ungute Gefühl nicht. Nur zogen die Wahlkämpfer bislang daraus die falschen Schlüsse.
Gerecht ist eine Gesellschaft, wenn sie Menschen mit gleichen Voraussetzungen dieselben Chancen bietet. Wenn sie allen Generationen, auch künftigen, die gleichen Möglichkeiten lässt, weil sie nicht auf deren Kosten lebt. Wenn für jeden die gleichen Rechte und Pflichten, die gleichen Gesetze gelten.
In einer Gesellschaft, in der Gewissheiten zerfließen, in der Menschen spüren, dass sich ihr Leben grundlegend ändert, dass die Digitalisierung die Arbeitswelt und die Globalisierung ihr Land grundlegend wandelt, ist der Glaube an die Gerechtigkeit das, was sie zusammenhält. Vielleicht ist er sogar der letzte Kitt. Menschen akzeptieren Ungleichheit, wenn sie begründet ist und die Gesellschaft nicht zu weit auseinanderdriftet.
Wenn sich das Unbehagen verfestigt, dass es nicht mehr fair zugeht, dass das Versprechen auf Aufstieg nur noch für einen Teil der Bürger gilt und dass ihr Schicksal keine Rolle spielt, werden die Menschen der Politik den Rücken zukehren.
Viele Menschen hätten das Gefühl, sagt der Soziologe Liebig, "dass sie nicht gehört werden, dass die Entscheidungen in der Politik hinter den Kulissen getroffen werden und für sie nicht nachvollziehbar sind".
Es ist eine Sicht, die den Glauben an das erschüttert, was die Bundesbürger mit Abstand an erster Stelle mit sozialer Gerechtigkeit verbinden - dass jeder eine Chance auf ein gutes Leben hat, wenn er sich nur nach seinen Kräften müht.
"Ungerechtigkeit", sagt Liebig, "ist Gift für eine moderne Gesellschaft."