Urwahl zu Europa-Spitzenkandidatur Das Mitmach-Fiasko der Grünen

Es ist ein Debakel für die europäischen Grünen - und ein Alarmsignal für die Europawahl: Erstmals wollte die Partei in einer offenen Urwahl ihre Spitzenkandidaten bestimmen, doch die Beteiligung ist kümmerlich. Initiator Bütikofer ist beschädigt, die Häme groß.
Grüne Spitzenkandidaten-Bewerber Harms, Bové, Frassoni, Keller: Wer kennt sie in Europa?

Grüne Spitzenkandidaten-Bewerber Harms, Bové, Frassoni, Keller: Wer kennt sie in Europa?

Foto: DPA/ European Green Party

Berlin - Die Zahl wird immer kleiner, je näher man an sie herangeht: Viel mehr als 20.000 Menschen werden am Ende wohl nicht mitgemacht haben, wenn am Dienstag um 18 Uhr die virtuellen Wahlurnen bei der "Green Primary" zur Europawahl  geschlossen werden. Aufgerufen zur Urwahl der Grünen-Spitzenkandidaten sind alle in Europa lebenden Menschen über 16 Jahre - das dürften also sogar deutlich mehr sein als die rund 380 Millionen Bürger, die zur Europawahl Ende Mai stimmberechtigt sind. Und selbst dann: 20.000 zu 380.000.000.

Rund 0,005 Prozent.

Es ist ein Fiasko für die Grünen. Und eine Ohrfeige für Reinhard Bütikofer, den Vorsitzenden der Europäischen Grünen (EGP) und langjährigen deutschen Parteichef, der sich die Urwahl ausgedacht hat.

Mit wem man auch spricht bei den Grünen dieser Tage, beim Thema "Green Primary" sinkt die Laune augenblicklich. Dabei hatte sich das so toll angehört, als Bütikofer und einige andere grüne Europapolitiker Anfang 2013 mit dem Vorschlag einer Spitzenkandidaten-Urwahl kamen. Die Grüne sehen sich als Mitmach-Partei, gerade in Deutschland hat man gute Erfahrungen mit Urwahlen gemacht - warum also nicht europaweit?

100.000 Teilnehmer - so lautete die Zielmarke. Bütikofer schwärmte noch im November zum Primary-Start davon, dass "diese Vorwahlen Räume eröffnen, Menschen für Politik interessieren". O-Ton Bütikofer: "Ein Politiker wie Bill Clinton ist erst durch die Primarys zum Player geworden."

Wer ist Ska Keller?

Der grüne Vordenker Bütikofer hatte sich so in seine Idee verliebt, dass er die Realitäten aus dem Auge verlor:

  • Ska Keller - so heißt die junge Europaabgeordnete aus Brandenburg, die bei der Primary zur Wahl steht - ist von Clinton so weit entfernt wie Potsdam von Washington.
  • Ähnliches gilt für Rebecca Harms, die Chefin der Grünen-Fraktion im Europaparlament,
  • die neben der früheren italienischen Europaabgeordneten Monica Frassoni
  • und dem französischen EU-Parlamentarier José Bové ebenfalls kandidiert.

Tapfer zogen die vier Spitzenkandidaten-Anwärter seit November auf Bewerbungstour quer durch Europa. Ein Riesenaufwand - und oft lief es wie Mitte Januar in Berlin: Außer einigen Journalisten und Grünen-Mitgliedern haben sich nur wenige Interessierte zu der Primary-Veranstaltung im Stadtteil Friedrichshain verirrt. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass man einen kleinen Raum für die Veranstaltung ausgewählt hat. Die Flyer zu den Kandidaten bleiben fast unangerührt. Und auch die Wahlkabinen werden kollektiv ignoriert. Dabei ginge das Wählen per Handy und bereitgestelltem Computer so einfach.

Durch die "Green Primary"-Pleite wird ein grundsätzliches Problem deutlich: Vielen Europäern ist immer noch ziemlich unklar, welche Rolle das gemeinsame Parlament und die EU-Kommission eigentlich für ihr Leben spielen. Schon die Wahlen zum Parlament sind in den meisten EU-Staaten ein müdes Unterfangen - wer bitte soll sich dann für die Spitzenkandidaten-Wahl der Grünen interessieren?

Schadenfreude bei der politischen Konkurrenz ist dennoch wenig angebracht: Das Mitmach-Debakel der Grünen zeigt das Dilemma, in dem sich in Deutschland alle Parteien befinden, die ernsthafte Europapolitik machen: Man erreicht die Wähler kaum - es sei denn, man setzt auf platte Botschaften wie die Alternative für Deutschland. Womöglich lässt die kümmerliche "Green Primary" nichts Gutes erahnen für die Beteiligung bei der Europawahl insgesamt.

Technische Probleme kamen dazu

Dazu kommen praktische Probleme bei den Grünen. Die technische Umsetzung der Urwahl war von Anfang an umstritten: Ohne Handy kann man nicht teilnehmen, dagegen sind Mehrfachabstimmungen für Menschen mit mehreren Mobiltelefonen offenbar möglich, auch datenschutzrechtliche Fragen wurden aufgeworfen.

Und nun?

Große Relevanz wird das Ergebnis in Deutschland angesichts der Beteiligung wohl nicht haben. Damit dürfte für den Fall, dass Ska Keller vor der politisch gewichtigeren Rebecca Harms landet, bei der Aufstellung der deutschen Grünen-Liste für die Europawahl am übernächsten Wochenende in Dresden dennoch Harms auf Platz eins landen: Warum sollten die Delegierten einem Votum folgen, an dem aus Deutschland nur einige tausend Bürger teilgenommen haben?

In der Kritik steht vor allem Primary-Erfinder Bütikofer. Er gibt sich unbeirrt: "Es werden sicher nicht so viele Teilnehmer, wie wir gehofft haben." Aber auch nicht so wenige, "dass man nur von einem Fehlschlag reden kann", sagt der Grünen-Politiker. Zur kompletten Geschichte gehört zwar auch, dass seine Idee in Deutschland lange viele gut fanden und kaum einer versuchte, ihn zu stoppen. Aber nun geht er mit der Pleite nach Hause. Das ist besonders bitter für Bütikofer, weil er selbst um seinen deutschen Spitzenplatz für die Europawahl zittern muss: Falls Harms in Dresden auf Platz eins gewählt wird, droht Bütikofer eine Gegenkandidatur auf Position zwei.

Anm. d. Red.: In einer früheren Version des Textes hieß es, 20.000 seien 0,00005 Prozent von 380 Millionen - das ist falsch. Tatsächlich sind es 0,005 Prozent. Wir bitten diesen Rechenfehler zu entschuldigen.

Mitarbeit: Lisa Schnell
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren