Gescheiterte Kanzlerkandidaten Als Stoibers Ende seinen Anfang nahm
Der Kanzlerkandidat Edmund Stoiber?
Das Frühstück von Wolfratshausen!
Natürlich. Unvergessen. Am Morgen des 11. Januar 2002 kam die CDU-Vorsitzende Angela Merkel bei Stoibers daheim in Wolfratshausen vorbei. Bei Kaffee, Semmeln, Ei und Marmelade bekam die Union nach Franz Josef Strauß ihren zweiten Kanzlerkandidaten aus der CSU.
Merkel handelte unter Druck. Wenige Tage zuvor hatte sie in einem Interview ihren Anspruch auf die Kanzlerkandidatur deutlich signalisiert. Doch die mächtigen Unionsmänner zeigten keine Unterstützung. Im Gegenteil: Es war zu befürchten, dass die Männerriege um Roland Koch und Christian Wulff auf der für den 11. Januar angesetzten gemeinsamen Sitzung von CDU-Präsidium und -Vorstand im Magdeburger "Herrenkrug" Stoiber als Kanzlerkandidaten durchdrücken würde. Dem kam Merkel zuvor und wahrte ihre Autorität als Parteivorsitzende.
Es lief schon recht früh auf Edmund Stoiber hinaus. Während die CDU durch den ab November 1999 durchschlagenden Spendenskandal mit dem schweren Erbe der Ära Kohl kämpfen musste, verlagerte der Bayer seine Prioritäten immer mehr auf Bundesebene. Stoiber, jetzt auch CSU-Chef, positionierte die CSU als "Speerspitze der Opposition" (Theo Waigel) gegen die rot-grüne Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Selbstbewusst bezeichnete er seine Partei als "Korsettstange der Union".
Doch Stoiber wies die Kanzlerkandidatur bis zuletzt immer wieder weit von sich. Aus der Niederlage seines Mentors Strauß als Kanzlerkandidat 1980 hatte er gelernt: Niemals gegen die CDU, niemals im Alleingang. Die Schwesterpartei musste schon rufen. Und dann kam sie nach Wolfratshausen und rief.
So zog Edmund Stoiber in den Kampf gegen den rot-grünen Kanzler. Es lief gut: Vier Monate vor der Wahl lag die Union zehn Prozentpunkte vor der SPD. Der Herausforderer punktete anfangs mit seinen Kompetenzwerten, setzte fast ausschließlich auf die Themen Wirtschaft und Arbeitslosigkeit. Die Demoskopen hefteten Stoiber schon das Prüfzeichen "Garantierter Sieger" ans Revers.
Dann kam die Flut.
Es war die Stunde der Exekutive, es war die Stunde von Gerhard Schröder, als die Elbe-Flut im August 2002 weite Teile im Osten Deutschlands überflutete. Der Kanzler streifte sich eine grüne Regenjacke vom Bundesgrenzschutz über, schlüpfte in Gummistiefel, zog ins Krisengebiet und sorgte für unbürokratische Hilfe. Stoiber brach seinen Kurzurlaub auf der Nordseeinsel Juist ab, reiste ebenfalls ins Krisengebiet aber Schröder wirkte authentischer und hatte die exekutiven Möglichkeiten. Der Vorsprung von Union und FDP aufs rot-grüne Lager schmolz auf nur noch drei Prozentpunkte.
Parallel hatte Schröder den Kandidaten Stoiber bei einer weiteren Frage in die Defensive gebracht: Der nach der Beteiligung deutscher Streitkräfte an einem möglichen Krieg gegen den Irak. Schröder schloss eine deutsche Beteiligung auch im Falle eines Uno-Mandats aus. So wollte das auch die große Mehrheit der Deutschen. Die Haltung der Union dagegen war unklar: Stoiber wollte kein Wahlkampfthema daraus machen, da sich die Frage ja konkret noch nicht stellte. Am Ende lautete die gemeinsame Linie der Union: Militäreinsätze nur unter Uno-Mandat, Stoiber wandte sich sowohl gegen deutsche als auch US-amerikanische Alleingänge.
Die Flut, die Irak-Frage scheiterte Edmund Stoiber allein an Unvorhersehbarem? Nein. Er scheiterte auch an seinen medialen Szenen. Sein erster Auftritt als Kanzlerkandidat in der TV-Talkshow "Sabine Christiansen" geriet zum Fiasko: Stoiber stolperte mit etlichen "Äh" durch seine Generalkritik am rot-grünen Zuwanderungsgesetz. Die Moderatorin sprach er als "Frau Merkel" an.
Bereits wenige Tage nach dem Frühstück von Wolfratshausen deutete er auch seinen Wunsch nach einem TV-Duell gegen den Kanzler an, ein Novum bei Bundeswahlkämpfen. Schröder stieg prompt darauf ein. Die beiden Ende August und Anfang September ausgestrahlten Telekämpfe mit jeweils rund 15 Millionen Zuschauern brachten dem Kanzler einen Punktsieg, Stoiber hatte zu stark polarisiert. Das honorierten die Zuschauer nicht, die SPD stieg um drei Prozentpunkte in den Umfragen.
Es ging schließlich weniger um Kompetenz- als um Sympathiewerte. Und da lag Stoiber eindeutig zurück. Mit seinem monothematisch auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt ausgerichteten Wahlkampf konnte er das stete Aufholen des ausgefuchsten Medienprofis Schröder nicht verhindern.
Ein Beispiel aus der Provinz mag Schröders Überlegenheit in jenen Bereichen fernab von Akten, Fleiß und harten Fakten illustrieren: Der Kanzler kokettierte mit seiner Herkunft, mit seinen Tagen als Fußballstürmer "Acker". Gekonnt drosch er hier und da einen Ball in irgendein Tor. Auch der Fußballfan Stoiber wusste natürlich um die Publikumswirksamkeit solcher Kraftgesten im Wahlkampf. Im Juli 2002 legte er sich den Ball in der heimischen Oberpfalz vor Torwand und Publikum zurecht und zog ab. Doch statt der Torwand traf er eine Frau ins Gesicht. Die Brillenträgerin zog sich eine blutende Wunde zu. In solchen Situationen kam bei Zuschauern beinahe Mitleid für den Kandidaten auf.
6027 Stimmen fehlten Stoiber zum Sieg
Was bleibt? Die Zahlen. Wenn Oskar Lafontaine einer der erfolglosesten unter den gescheiterten Kanzlerkandidaten war, dann war Edmund Stoiber einer der erfolgreichsten. Er verlor äußerst knapp: Nur 6027 Stimmen fehlten den Unionsparteien im Jahr 2002 auf die SPD, beide erreichten jeweils 38,5 Prozent der Stimmen. Stoiber konnte auch deshalb nicht ins Kanzleramt einziehen, weil sein potentieller Koalitionspartner FDP zwar eine 18-Prozent-Kampagne inklusive Kanzlerkandidat fuhr, schließlich aber nur auf 7,4 Prozent kam. Die Grünen hingegen erreichten einen Anteil von 8,6 Prozent und retteten damit die rot-grüne Regierung.
Stoiber scheiterte in Berlin, aber er siegte in Bayern: Ein Jahr nach seiner Niederlage als Kanzlerkandidat holte er als CSU-Spitzenkandidat die Zwei-Drittel-Mehrheit der Mandate im Freistaat. Ein Triumph. Kurz darauf hätte er Bundespräsident werden können. Oder EU-Kommissionspräsident. Alles war möglich. Stoiber wollte nicht. Er wollte in München bleiben.
Erst die Große Koalition nach der Bundestagswahl 2005 zog ihn nach Berlin. Die Koalitionäre nahmen Maß und schneiderten dem mächtigen Bayern das Amt des Super-Wirtschaftsministers. In München teilten sie derweil sein Erbe auf.
Aber plötzlich war Stoiber wieder da. Er floh aus Berlin. Natürlich war ihm klar, dass er dort nicht die Nummer 1 hätte sein können. Aber wenigstens Schattenkanzler an der Seite Merkels? Als CSU-Vorsitzender war er ja auch immer gleichberechtigt neben der CDU-Vorsitzenden aufgetreten. Merkel aber muss signalisiert haben: Keine Chance. Und Edmund Stoiber ging heim nach München.
In Berlin spotteten sie über den Hasenfuß. Die stolze CSU aber war verunsichert. Dieser November 2005 war Stoibers eigentliche bundespolitische Niederlage, nicht jene lange Nacht des zähen Wartens aufs Endergebnis im September 2002. Und sie sollte auf die Landesebene durchschlagen. Die CSU-Basis hat Stoibers Flucht aus Berlin wohl mit ähnlicher Fassungslosigkeit verfolgt, mit der die Anhänger des FC Bayern München ihren Verein in den letzten 103 Sekunden des Champions-League-Finales gegen Manchester United im Mai 1999 untergehen sahen. Ein Nimbus war zerstört, das bajuwarisch-markige Selbstbewusstsein bekam einen Knacks. Das verzieh die CSU Stoiber nie.
Den ersten kritischen Winter überstand er noch gerade so. Dann kam jene Landrätin aus Fürth, die der Kritik wieder Aufschwung gab. Diese zweite Winter-Chance ließen sich die Nachfolger nicht mehr nehmen. Am 30. September 2007 wird Stoiber seine Ämter niederlegen.
Korrektur: Im Sommer 2002 überflutete die Elbe weite Teile im Osten Deutschlands - nicht die Oder, wie es zunächst falsch im Artikel hieß.