Der Mittelschicht droht der Niedergang, im Herzen der deutschen Gesellschaft herrscht Angst vor dem sozialen Abstieg. Forscher diagnostizieren eine akute Statuspanik - sechs Betroffene berichten auf SPIEGEL ONLINE von ihrem täglichen Kampf: um Geld, Jobs, Kinderbetreuung.
Mittelschichtfamilie W. aus Halle an der Saale: Immer öfter kneift es
Ein eigenes Häuschen. Ein Zweitwagen. Ein-, zweimal mit der Familie wegfahren im Jahr. Das ist der Traum der deutschen Mittelschicht. Vielleicht noch ein bisschen bessere Bildung für die Kinder. Aufsteigen und den Aufstieg sichern.
Das
definiert den Begriff mit zwei schlichten Zahlen: Wer zwischen 70 und 150 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens verdient, gehört dazu. 2009 heißt das: bei einem Single 1100 bis 2300 Euro netto im Monat, bei einem Ehepaar mit zwei Kindern 2300 bis 4900 Euro netto. Andere Experten nehmen andere Grenzwerte und berücksichtigen auch noch Bildungsgrad, Beruf oder die Zahl der Bücher - in zwei Punkten aber stimmen die meisten überein:
Erstens gehörten in den achtziger Jahren in Westdeutschland zwei Drittel der Bürger zur Mittelschicht.
Zweitens sind es heute weniger.
64 Prozent betrug der Anteil der Mittelschicht an der deutschen Gesellschaft im Jahr 2000 laut DIW. Heute sind es nur noch 60 Prozent. Die Oberschicht ist gewachsen - noch viel mehr aber die Unterschicht. Laut "Sozialbericht" von 2008 hat die Einkommensungleichheit Ausmaße angenommen, wie selten in den vergangenen Jahrzehnten. Immer mehr teilt sich die Gesellschaft auf in unten und oben. Und dazwischen wird es dünner.
Das DIW spricht von "Abwärtsmobilität" und meint: Abstieg. In einer Studie über die schrumpfende Mittelschicht hat das Institut festgestellt, dass, wer heute unten ist, auch länger unten bleibt als früher. Und das macht Angst. "Gerade bei den mittleren Schichten, deren Status sich auf Einkommen und nicht auf Besitz gründet, besteht eine große Sensibilität für Entwicklungen, die diesen Status bedrohen", heißt es in der Studie.
Die Forscher nennen es "Statuspanik".
Sie meinen: Die Mittelschicht fürchtet um ihren Traum. Bloß nicht zur Unterschicht gehören! Es geht nicht mehr um den Aufstieg, sondern um die Angst vorm Abstieg.
Wie die Ursachen dieser Angst konkret aussehen, wie sie den Alltag prägen, schildern sechs Betroffene auf SPIEGEL ONLINE:
Wer heute Mittelschicht ist, leidet natürlich keinen Hunger, kommt gut durch - aber gut geht es den Menschen trotzdem nicht. Der Sozialwissenschaftler Berthold Vogel warnt davor, die Sorgen der Betroffenen kleinzureden: "Wir übersehen die Brüchigkeit der Arbeits- und Lebenswelten der Mittelschicht", sagt er.
Jobs werden unsicherer - nicht nur für Unqualifizierte wie früher, "auch in den klassischen Arbeitsmilieus der Mittelschicht werden sie immer prekärer. Sie sind oft befristet - zum Beispiel im Bildungsbereich, öffentlichen Dienst und Gesundheitswesen", sagt Vogel. Laut Statistischem Bundesamt arbeiteten 2008 rund 2,7 Millionen Menschen in einem befristeten Job. 44 Prozent mehr als noch ein Jahrzehnt zuvor. Man muss heute mobil sein und unsichere Stellen akzeptieren. "Singles können sich damit noch relativ gut arrangieren", sagt Familienwissenschaftlerin Uta Meier-Gräwe von der Uni Gießen. "Das Problem sind gut ausgebildete junge Frauen und Männer, die sich aus Angst vor finanzieller Not die Entscheidung für Kinder verkneifen. Obwohl Kinder in ihren Lebensentwürfen vorgesehen waren."
Weniger Netto, weniger Staatshilfen
Hartz IV hat die Angst vor dem Statusverlust verschärft - auch wenn sie größer ist, als die tatsächliche Bedrohung. Nach einer Untersuchung des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) erhielt nur einer von 1000 Hartz-IV-Empfängern vor dem Jobverlust ein monatliches Bruttogehalt von mehr als 3500 Euro.
Die Unsicherheit der Mittelschicht rührt aus dem Gefühl, in den vergangenen Jahren immer mehr unter Druck gekommen zu sein - auch vom Staat. Tatsächlich ist es so, dass die Belastungen keineswegs geringer geworden sind:
Weniger Netto: Die Mittelschicht profitiert selten von Ermäßigungen. Rabatte für Eintrittsgelder, öffentliche Verkehrsmittel gibt es kaum - im Gegenteil, schnell wird für sie der Höchstsatz bei Steuern und Abgaben fällig. Das Netto auf dem Konto schmilzt da schnell dahin, besonders bei Familien. Zumal die Reallöhne in vielen Branchen ohnehin seit Jahren sinken.
Weniger vom Staat: Subventionen wie die Eigenheimzulage: gestrichen. Mieten und Mietnebenkosten: gestiegen. Krankenkassenbeiträge: erhöht. Dazu die Praxisgebühr und weitere Ausgaben für die Absicherung der eigenen Zukunft, die es vor 20 oder 30 Jahren in Zeiten der Rundumbetreuung durch den Staat gar nicht gab. "Der Wohlfahrtsstaat wurde neu justiert", sagt der Hamburger Sozialforscher Berthold Vogel. Mittelschichtfamilien zahlen heute aus eigener Kasse auch noch für zusätzliche Gesundheits- und private Altersvorsorge und häufig die Bildung der Kinder. Vogel: "Die vom Staat versprochene Statussicherung wird nicht mehr eingelöst. Das trifft vor allem jene, die etwas erreicht haben, also die Mittelschicht. Das trifft die Mitte im Kern."
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Die Mitte in Zahlen: Sorgen, Steuern, Einkommen
Arbeitnehmer mit mittleren Einkommen tragen schon immer eine vergleichsweise hohe Steuerlast - man spricht vom "Mittelstandsbauch". Der wird größer. Das Karl-Bräuer-Institut vom Bund der Steuerzahler hat ausgerechnet, dass die Gruppe, die im Jahr zwischen 29.000 und 112.000 Euro verdient, gegenüber vergleichbaren Einkommen im Jahr 1990 zum Teil deutlich mehr Steuern zahlen muss. Wer dagegen ein höheres oder niedrigeres Einkommen hat, kommt besser weg als vor 20 Jahren - entgegen aller Versprechen von SPD, Union, FDP und Grünen, die die Mitte umwerben.
Was sind die Folgen dieser Entwicklung? Für die Mitte wird die Abgrenzung von der Unterschicht immer wichtiger - "wir sind wer", lautet das Credo, sagt Familienforscher
. "Die untere Mittelschicht rutscht gefährlich an die Grenze heran, wo es schwierig ist, noch ein bürgerliches oder kleinbürgerliches Leben zu führen." Diese Menschen würden oft eher nicht im Alltag sparen, sondern bei Reisen und Kleidung - wo es nicht sofort schmerzt.
Lamentieren, weil es nicht für neue Klamotten reicht, für die Montessori-Schule für die Kinder? "Sicherlich ist in der Mittelschicht auch ein Jammern auf hohem Niveau zu beobachten - weil auch junge Erwachsene aus den goldenen Achtzigern und den frühen Neunzigern es noch anders kennen", sagt Hurrelmann. Aber alle Empfindungen von Wohlstand seien nun einmal relativ. Die Klage sei "psychologisch völlig nachvollziehbar".
"Es ist das Wesen der gesellschaftlichen Mitte, dass sie sich nach oben orientiert", sagt Vogel. "Aufsteiger gucken immer nach oben."
So ungleich sind die Einkommen verteilt
niedrige Eink. im Schnitt
mittlere Eink. im Schnitt
hohe Eink. im Schnitt
Differenz niedrige zu mittleren
Differenz hohe zu mittleren
2000
680 Euro
1287 Euro
2569 Euro
-607 Euro
+1282 Euro
2001
690 Euro
1300 Euro
2561 Euro
-610 Euro
+1262 Euro
2002
664 Euro
1279 Euro
2669 Euro
-616 Euro
+1389 Euro
2003
669 Euro
1300 Euro
2690 Euro
-631 Euro
+1390 Euro
2004
657 Euro
1264 Euro
2583 Euro
-607 Euro
+1319 Euro
2005
659 Euro
1269 Euro
2567 Euro
-610 Euro
+1298 Euro
2006
650 Euro
1255 Euro
2626 Euro
-605 Euro
+1370 Euro
2007
651 Euro
1251 Euro
2569 Euro
-601 Euro
+1318 Euro
2008
645 Euro
1252 Euro
2538 Euro
-607 Euro
+1287 Euro
2009
677 Euro
1311 Euro
2672 Euro
-634 Euro
+1360 Euro
monatliche Angaben; Quellen: Sozioökonomisches Panel, Berechnungen des DIW Berlin
3 BilderDie Mitte in Zahlen: Sorgen, Steuern, Einkommen
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Die schrumpfende Mitte: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat untersucht, wie sich die mittlere Einkommensschicht in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Die Forscher haben die Gruppe untersucht, die zwischen 70 und 150 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung hat.
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Wie sieht die Mittelschicht ihre Zukunft? Die Sorgen nehmen zu.
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Abgabenbelastung der Mitte: Laut OECD zahlen die Deutschen deutlich mehr an Steuern und Sozialbeiträgen als ihre europäischen Nachbarn.