
S.P.O.N. - Im Zweifel links Der Faschismus lebt

"Dies ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir jemals hatten." Joachim Gauck hat das im vergangenen Jahr gesagt . Ein schöner Satz. Für solche schönen Sätze lieben ihn die Menschen. Gauck ist ein Schön-Redner. Und gemeinsam mit ihrem Präsidenten haben sich die Deutschen ihr Deutschland schöngeredet. Vielleicht aus jener merkwürdigen Sehnsucht heraus, die im berühmten Satz vom "Ende der Geschichte" steckte: dass die Dinge endlich ein für alle mal gut sind.
Aber wir wissen längst, dass die Geschichte nicht zu Ende ist - und für die deutsche Geschichte gilt das erst recht.
Wir sehen gerade, wie ein Stück dieser Geschichte lebendig wird: der Faschismus. Nichts anderes ist es, wenn Enttäuschung, Lüge, Hass und Gewalt zu Politik werden: Faschismus. Wer dachte, Geschichte wiederhole sich nicht, der irrt.
Das Dienstleistungsproletariat
Wie reagiert das liberale Deutschland? Die Rechten werden mit Abscheu betrachtet und als Idioten beschimpft. Der Verfall der bürgerlichen Kultur wird beklagt. Die Fähigkeit zum Gespräch wird vermisst. Das Internet wird beschuldigt. Oder die verfehlte Erziehung. Aber das sind nur die Symptome, nicht die Ursachen. Nach den Ursachen wird erstaunlich wenig gefragt. Das liegt daran, dass wir das Denken in sozioökonomischen Begriffen verlernt haben. Oder es nicht wagen.
Wer meint, der Hass komme aus dem Netz, von falscher Erziehung oder zu viel fernsehen, sollte Heinz Bude lesen. Im September hat der Soziologe in der "FAZ" einen Text geschrieben , der Analyse an die Stelle von Appellen setzte.
Bude beschreibt eine neue gesellschaftliche Klasse: das Dienstleistungsproletariat. Es sind die Leute, die die Pakete packen, die in der Auslieferung arbeiten, die Häuser und Züge reinigen, in den Supermärkten die Regale füllen und an der Kasse sitzen. Sie arbeiten vierzig, fünfzig Stunden die Woche und haben dafür 900 Euro, vielleicht 1100 in der Tasche. In Deutschland sind das zwölf bis fünfzehn Prozent der Erwerbstätigen, fünf, sechs Millionen Menschen. Sie machen den anderen das Leben leichter, jenen, die in der globalisierten Wirtschaft mithalten können. Aber ihnen selbst nützt keine Globalisierung, kein Wirtschaftswachstum und kein Mindestlohn.
Für diese Menschen sind die Flüchtlinge, die jetzt zu Hunderttausenden nach Deutschland kommen, nicht nur eine ausgedachte Bedrohung sondern eine reale - eine Reservearmee, stets bereit, sie zu ersetzen.
Die Verbitterten
Bude schreibt dann von denen, die er die "Verbitterten" nennt. Leute, die "trotz guter Bildungsvoraussetzungen und hoher Leistungsbereitschaft die Position vergleichbarer anderer nicht erreicht" haben. Die sich ihres "prekären Wohlstands" nicht recht freuen können, weil sie ihn dauernd gefährdet wissen. Noch einmal zehn Prozent.
Gemeinsam mit der neuen Unterschicht sind das zehn Millionen Menschen, die bereitstehen für das, was der Soziologe die "Koalition der Angst" nennt, die quer durch die Gesellschaft läuft: "Wenn Dienstleistungsproletarier und prekär Wohlhabende sich in einem diffusen Misstrauen gegen das System verbünden, wird es brenzlig im Land."
In der Ära der Selbstoptimierung sehen diese Leute in den Spiegel und stellen fest: Da ist nicht viel zu optimieren. Besser wird es nicht. Sie haben die Maßstäbe gelernt, die in dieser Gesellschaft darüber entscheiden, was wertvoll ist. Und sie wissen, wo sie da stehen. Das ist das Wesen unserer neoliberalen Variante von Demokratie: Sie erkennt im Menschen nur den Homo oeconomicus und entkleidet ansonsten alle Begriffe ihres Inhalts. Würde, Freiheit, Gerechtigkeit - das bedeutet alles etwas anderes. Oder nichts.
Wenn der Wohlstand wegfällt, bleibt nichts
Der Neoliberalismus hat die Menschen glauben gemacht, ein natürliches Gesetz zu repräsentieren, eine objektive Vernunft. Aber er ist eine totalitäre Ideologie. Er beansprucht und erfasst den ganzen Menschen. Wer im Neoliberalismus versagt, versagt darum total.
Was sollen dann den Versagern in diesem System noch die Appelle an Pflicht und Grundgesetz und Mitgefühl? Es ist ein System, das alle nicht ökonomischen Werte negiert, das alles Öffentliche verächtlich macht, das die Intellektuellen nicht braucht und den Bürger als Citoyen nicht schätzt. Und was bleibt davon, wenn es das einzige Versprechen, das ihm eigen war, nicht hält: das Versprechen des materiellen Wohlstands? Nichts. Und von diesem Nichts zum Faschismus ist es nur ein kleiner Schritt. In Dresden und anderswo tut eine wachsende Zahl von Menschen gerade diesen Schritt.
Aber so tief will das liberale Deutschland, das sich über die rechten Exzesse empört, lieber nicht graben. Sonst gälte es, sich einzugestehen, was die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown formuliert hat: Der Sieg des Neoliberalismus - und die Schwäche sowohl linker als auch liberaler Politik - deuten auf eine "allgegenwärtige, wenn auch uneingestandene Erschöpfung und Verzweiflung an der abendländischen Kultur."
Wir haben aufgehört, an eine bessere Welt zu glauben.
