Jan Fleischhauer

S.P.O.N. - Der Schwarze Kanal Der große Internet-Irrtum

Wie kommt es, dass ich im Internet ständig russische Auffahrunfälle und arabische Frauenschubser angeboten bekomme? Angeblich wissen Konzerne wie Google und Facebook doch alles über die Wünsche ihrer Kunden.
Google-Logo: Rätselhafte Algorithmen

Google-Logo: Rätselhafte Algorithmen

Foto: ARND WIEGMANN/ REUTERS

Ich bin offenbar ein riesiger "Star Wars"-Fan. Soweit ich mich erinnere, konnte ich mit dem "Star Wars"-Kult nie etwas anfangen. Ich interessiere mich einfach nicht genug für Lichtschwerter und Roboter, die komische Töne ausstoßen. Außerdem finde ich erwachsene Männer, die sich nach Feierabend in ihre Fantasiewelten zurückziehen, eher seltsam. Aber jedes Mal, wenn ich auf Twitter bin, wird mir ein Videospiel angeboten, mit dem man den "Star Wars"-Kosmos ganz neu erleben kann.

Ich habe offenbar auch ein Faible für Auffahrunfälle in Russland und Videos, in denen Arabisch sprechende Männer ihre Frauen an den Haaren aus dem Auto zerren, um sie auf der Straße vor aller Augen herumzuschubsen. Kaum melde ich mich bei Facebook an, tauchen in meiner Timeline Filme von Leuten auf, die sich die größte Mühe gegeben haben, eine Art Best-of von russischen Unfallfahrern und frauenschubsenden Arabern zusammenzustellen.

Ich hätte in meiner Timeline lieber Videos über englische Gartenkunst oder die schönsten Antiquariate der Welt. Ich finde, das würde auch besser zu mir passen. Aber aus einem mir unerfindlichen Grund hat man bei Facebook entschieden, dass die Russen-Crashs das Richtige für mich sind.

Überall lese ich, dass die großen Internet-Unternehmen alles über uns als Verbraucher wissen, weil sie nichts vergessen, was wir ihnen einmal mitgeteilt haben. Jede Spur, die wir im Netz hinterlassen, wird gespeichert und von irrsinnig cleveren Algorithmen so aufbereitet, dass die Könige der Daten unsere Wünsche schon kennen, bevor wir sie überhaupt geäußert haben. In das Herz der Kunden sehen zu können, ist das Versprechen, das Google zu einem der wertvollsten Konzerne der Welt gemacht hat. Diese Fähigkeit ist für jede Firma, die etwas verkaufen will, wie Alchemie.

Amazon bietet Kettensägen statt Gedichtbände

Ich weiß nicht, warum das bei mir nicht funktioniert. Ich bin ständig im Internet unterwegs, meine Spur dort ist so breit wie die eines Elefanten. Vielleicht bin ich ja jemand ganz anders als derjenige, für den ich mich halte. Wenn ich bei Amazon Kettensägen statt Gedichtbände angeboten bekomme, wissen die möglicherweise etwas über mich, was ich noch nicht weiß. Die andere Erklärung wäre, dass es mit der Internet-Prophetie nicht so weit her ist, wie es das Big-Data-Gesummse vermuten lässt.

Wenn sie im Silicon Valley eines können, dann ist es verkaufen. Sobald man mit Konzernen wie Google zu tun hat, bekommt man eingebläut, dass es nicht darum gehe, ein x-beliebiges Produkt zu verhökern (auch wenn das exakt das ist, womit man sein Geld verdient), sondern darum, die Gesellschaft insgesamt transparenter, egalitärer und überhaupt demokratischer zu machen.

Dass das Internet ein Platz sei, von dem aus die ganze Welt gesundet, glauben erstaunlich viele Menschen. Entsprechend groß ist die Aufregung, wenn jemand Regeln vorschlägt, wie sie für jeden anderen Ort, an dem Handel getrieben wird, selbstverständlich sind.

Die digitale Revolution - ein Werbetrick

Ich war eine Woche in San Francisco. Wenn es einen Ort geben müsste, an dem sich die Umrisse der neuen offenen Gesellschaft zeigen, dann hier. Leider können sich viele die Teilhabe nicht mehr leisten, seit die Immobilienpreise so in die Höhe geschnellt sind, dass diese Menschen San Francisco verlassen müssen oder, wenn sie das nicht wollen, auf der Straße leben. Erst dachte ich, dass die zerzausten Gestalten, über die ich jeden Morgen auf dem Weg zum Zeitschriftenhändler stieg, in der Kapitale des Netzes eine Art Späthippietum ausleben würden.

Dann wurde ich belehrt, dass eben alles seinen Preis hat. Tatsächlich spricht sehr viel mehr für die Annahme, dass die Internet-Ökonomie die Ungleichheit verschärft, als dass es sie lindert, wie Andrew Keen in seinem exzellenten Buch "The Internet Is Not the Answer" geschrieben hat.

Mir war der Neid auf Leute, die zu Reichtum gekommen sind, immer fremd. Ungleichheit schreckt mich nicht. Aber ich finde es bemerkenswert, dass gerade unter Menschen, die von Kapitalismuskritik das eine oder andere verstehen sollten, eine merkwürdige Verklärung einsetzt, wenn es um die digitale Welt geht.

Alles nur ein Werbetrick?

Die schärfsten Kritiker der Internet-Ökonomie und ihrer Heilsversprechen kommen jedenfalls nicht aus dem Lager der Linken, sondern von Insidern wie Keen, denen irgendwann das ganze Gequatsche auf die Nerven gegangen ist, mit denen die neuen Maharadschas ihre Geschäfte bemänteln.

Manchmal beschleicht mich der Gedanke, dass vieles von dem, was uns als digitale Revolution verkauft wird, ein Werbetrick ist. Dass in der digitalen Welt die Gesetze des normalen Wirtschaftslebens außer Kraft gesetzt seien, war schon das Versprechen des ersten Internetbooms, der bekanntlich für viele Leute mit ziemlichen Kopfschmerzen endete.

Ich warte jedenfalls auf den Tag, an dem Amazon aufgrund meiner Anfragen tatsächlich erkennt, was ich wohl als Nächstes bestellen werde, und mir das Paket vor die Tür legt, bevor ich daran gedacht habe, danach zu fragen. Bis dahin schaue ich mir weiter russische Auffahrunfälle an.

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