"Gorch Fock" im Heimathafen "Wir haben es verdient, wieder in See zu stechen"
Wenn die Vorwürfe nicht so lästig wären, es wäre die perfekte Willkommensparty. 181 Matrosen auf Heimatbesuch - hier am Kieler Marinehafen lösen sie den gleichen Brüllpegel aus wie Justin Bieber in einer Mehrzweckarena von Köln. Eltern, Schwestern, Verlobte, Patenonkel, knapp zweitausend Angehörige und Freunde der Stammbesatzung des berühmtesten Segelschulschiffs Europas heißen die " Gorch Fock" willkommen.
Von Deck aus blinzeln die Offiziere und Unteroffiziere in die Sonne, versuchen, erste Blicke auf Verwandte und Freunde zu erhaschen. Noch müssen sie stramm stehen und die "In the Navy"-Marschversion des Musikkorps überstehen.
Dann macht die "Gorch Fock" an der Mole fest, die Gangway sinkt, die Bark entlässt ihre Besatzung auf festen Boden. Auf beiden Seiten gibt es kein Halten mehr, die Absperrbande bricht, binnen Sekunden gibt es ein Riesengedrängel. "Da ist mein Jung'!", ruft eine Besucherin. Es wird geküsst und umarmt, Tränen fließen.
Doch die Euphorie ist getrübt. Fast auf den Tag genau sechs Monate nach dem Tod der Kadettin Sarah Lena S. sind die Vorwürfe gegen Ausbilder und Crew der Schiffslegende noch immer dauerpräsent. "Da oben ist sie hochgeklettert", raunt ein Matrose seinem Vater zu und zeigt auf einen Mast. Ein anderer Unteroffizier erzählt, die Besatzung habe während des Törns täglich über das Geschehene debattiert.

Die Gemengelage ist kompliziert und noch immer nicht vollständig durchleuchtet. Der Unfall der 25-jährigen Offiziersanwärterin, die aus 27 Metern aus der Takelage glitt, Berichte über meuterei-ähnliche Zustände, Ekel-Rituale, sexuelle Nötigung und Saufexzesse - nach einer Serie düsterer Schlagzeilen wurde die Südamerika-Reise des Schiffs abgebrochen, die Kadetten wurden ausgeschifft und nach Hause geschickt. Die Legende der "Gorch Fock" ist zerstört, die Kadetten-Ausbildung liegt auf Eis. Noch weiß keiner, wann und ob das Schiff wieder in See stechen wird.
"Vielleicht bekam ihr das Klima nicht"
Der Aufruhr um den Fall Sarah Lena S. stößt am Kai überwiegend auf Unverständnis. "Mein Junge ist glücklich gefahren und glücklich wieder angekommen", sagt eine Mutter aus Hessen. Ein Sachse vergleicht die Rituale an Bord mit ostdeutschen Neptunfesten, "da wurden wir auch ins Wasser geschmissen, mussten Essig trinken". Ein rauer Ton sei noch lange kein unmenschlicher Drill: "Befehle flüstert man eben nicht!"
"Eine Schande, was sie mit dem Mann gemacht haben", wütet Besucherin Marion Pilath über die Absetzung von Kommandant Norbert Schatz, der nach der Skandalserie suspendiert wurde. Die einhellige Meinung an der Mole: Die Besatzung wurde durch "Meinungen Einzelner" kollektiv in den Dreck gezogen. "Wir haben es verdient, wieder in See zu stechen", sagt ein Matrose in die Kameras.
Andere glauben nicht an eine Überforderung der jungen Frau seitens der Ausbilder und Stammbesatzung. "Vielleicht bekam ihr der Klimawechsel nicht", meint eine Besucherin. Der 21-jährige Daniel, frisch von Bord, drückt es so aus: "Nichts gegen Abiturienten", aber man merke schon, wer den ganzen Tag vor dem Computer sitze, und wer fit genug sei, um sicher an Masten herumzuklettern.
"Man muss Extremsituationen abkönnen", sagt Jenne Sommerkorn, die auch als Kadettin auf der "Gorch Fock" ausgebildet wurde. "Es geht ja gerade darum, dass man selbst seine Grenzen erkennt und überwindet." Was wirklich passierte? "Es war halt ein Unfall", sagt der 22-Jährige Florian Otremba aus Riesa und fügt hinzu: "Ich bin nach meinem Urlaub gleich wieder hoch in die Takelage."
Die Familie ist empört
Kaum jemand erwartet, dass die Besatzung alle Antworten liefern kann. Die Bundeswehr muss die Vorfälle aber so präzise und schnell wie möglich aufklären. Einer soll es jetzt richten: Marine-Inspekteur Axel Schimpf, der am Tag des Einlaufens einen ersten Zwischenstand zu den Untersuchungen geben soll. Viel sagt er nicht.
Schatz sei lediglich "aus Fürsorgegründen aus der Schusslinie" genommen worden, so drückt es der Krisenmanager aus. Immer wieder verhakt er sich in Widersprüchen. Einen ersten Untersuchungsbericht der Marine vom März zieht er als Beweis für die schnelle Aufklärungskompetenz der Bundeswehr heran - an anderer Stelle entkräftet er den Report: Schließlich sei dieser "nur für den internen Gebrauch" gedacht gewesen, keinesfalls aussagekräftig.
Auf die Frage, wie das einstige Prestigeschiff in so eine Schieflage geraten konnte, antwortet der Inspekteur: "Weil die Politik sagte, sie wolle sich damit beschäftigen." Angesichts der Tatsache, dass die ersten Vorwürfe von Teilen der Besatzung selbst ausgingen, eine unglückliche Formulierung. Warum die Kadettin kurz vor ihrem Tod gleich sieben Mal aufentern musste? Sich in Zahlenwerk zu vertiefen, sei vor Abschluss der Untersuchungen verfrüht. Ob man im Umgang mit der Familie der toten Kadettin Fehler gemacht habe? Klares Nein.
Die Angehörigen sehen das freilich anders. Die Dauer des Ermittlungsverfahrens der Kieler Staatsanwaltschaft sei "völlig rätselhaft", sagte der Anwalt der Mutter von Sarah Lena S. dem SPIEGEL. Ein Onkel der verunglückten Kadettin sagte der "Bild": "Wir haben das Gefühl, dass die Marine schon wieder vergessen hat, dass auf dem Schiff Menschen ums Leben gekommen sind".
Neue Westen, ein Klettertraining
Die Bundeswehr versichert, der Schutz der Kadetten habe "oberste Priorität". Die Ausbildung, so Schimpf, müsste der "veränderten Verfassung" der Neuzugänge angepasst werden. Bislang sind die Vorschläge dafür ziemlich unkonkret: An Land soll ein Übungsmast aufgestellt werden, auf See GPS-Rettungswesten für bessere Ortungsmöglichkeiten vermisster Kadetten sorgen.
Unterdessen mehren sich die Anzeichen, dass der Segler nicht als Museumsschiff ausrangiert wird. Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) signalisierte bereits die Absicht, trotz der Vorfälle am Marine-Segler festzuhalten. Im Juni will er, nach Abschluss aller noch laufenden Untersuchungen, Stellung zur Zukunft der "Gorch Fock" nehmen.
Die meisten Besatzungsmitglieder haben ersteinmal frei. Vor Januar 2012 wird das Schiff nicht zu einer neuen Ausbildungsreise auslaufen. Der Wehrbeauftragte der Bundesregierung, Hellmut Königshaus, wird gemeinsam mit Schimpf dem Schiff noch vor der Kieler Woche einen Besuch abstatten - der Inspekteur will dem Verlauten nach das Klettern am Mast am eigenen Leib probieren.