Planspiele zur künftigen Bundesregierung Dann eben Schwarz-Not

Was, wenn die SPD im Herbst die Koalition sprengt? Neuwahlen will außer den Grünen kaum jemand. Also denkt man in Berlin über die Idee einer Minderheitsregierung nach.
Kanzlerin Merkel am Dienstag bei der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in Genf

Kanzlerin Merkel am Dienstag bei der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in Genf

Foto: SALVATORE DI NOLFI/ EPA-EFE/ REX

Planen kann man in der Politik eine Menge. Es ist nur die Frage, wie viel von den Plänen in der Realität übrig bleibt.

Was Angela Merkel in ihrer langen politischen Karriere ebenfalls gelernt hat: Man sollte keine Angst davor haben, eine Sichtweise zur Not zu korrigieren - also beispielsweise wenn sich Dinge anders entwickeln als gedacht.

So war die CDU-Politikerin lange Zeit fest davon überzeugt, dass Kanzleramt und Parteivorsitz in eine Hand gehören. Es kam der Herbst vergangenen Jahres, die CDU kassierte erneut eine Wahlklatsche, diesmal in Hessen - und Merkel kündigte plötzlich und überraschend an, auf dem Bundesparteitag nicht erneut für den Vorsitz zu kandidieren, Kanzlerin aber zu bleiben. Das sei ein "Wagnis" - aber nach sehr langem Abwägen halte sie es für "vertretbar, dieses Wagnis einzugehen", sagte die CDU-Vorsitzende.

Die Unionsparteien hatten sich im Sommer 2018 beinahe gespalten, die Koalition war in den Wochen zuvor wegen der Personalie Hans-Georg Maaßen fast zerbrochen. Unruhiger war es in Merkels Regierungsjahren seit 2005 noch nie zugegangen - und es ist seitdem nicht besser geworden. Nach dem Doppelrücktritt von Andrea Nahles als SPD-Chefin und Fraktionsvorsitzende glaubt bei den Sozialdemokraten kaum noch jemand, dass die Koalition den Herbst überstehen wird.

Gleichzeitig befindet sich die Union auf einer beispiellosen Talfahrt, der positive Impuls nach dem Wechsel von Merkel zu Annegret Kramp-Karrenbauer an der CDU-Spitze scheint verpufft, die Personaldebatten erinnern inzwischen an die unselige Praxis bei der SPD.

Merkels Plan ist nicht aufgegangen: Die Große Koalition sollte dem Land Stabilität bringen, ihr Abschied vom Parteivorsitz die CDU wiederbeleben.

Wird also jetzt umgeplant?

So weit ist es noch nicht. Aber im Wissen um die Beweglichkeit Merkels macht man sich in ihrer eigenen Partei Gedanken, wie es anders weiter gehen könnte als mit Neuwahlen. Genau wie in der SPD. In der FDP wird sogar schon öffentlich mit dem Plan M hantiert, den es ja eigentlich noch gar nicht gibt: einer möglichen Minderheitsregierung. Man würde der Regierung dann "keinen Blanko-Scheck" ausfüllen, sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Marco Buschmann, dem SPIEGEL - aber "sehr konstruktiv diejenigen gesetzgeberischen Projekte unterstützen, die für Deutschland sinnvoll und notwendig sind".

Dass sich die Kanzlerin nach dem Jamaika-Scheitern mehrfach klar gegen eine Minderheitsregierung aussprach? Siehe oben: Merkels Sichtweisen sind korrigierbar. Ihr Argument seinerzeit: Stabilität - die genau nicht hergestellt wurde.

Bei einem Bruch der Koalition durch die SPD stünde sie vor der Wahl: Im Bundestag die Vertrauensfrage stellen, um diese zu verlieren und damit Neuwahlen und das Ende ihrer Kanzlerschaft herbeizuführen - oder eben eine Minderheitsregierung zu installieren. Wohlgemerkt, das wäre ein Novum in Deutschland.

Wer will einen monatelangen Wahlkampf mit ungewissem Ausgang?

Unter den gegebenen Umständen könnte das trotzdem stabilere Verhältnisse garantieren als ein monatelanger Wahlkampf mit ungewissem Ausgang, während gleichzeitig die Welt da draußen mit Donald Trump in Washington und Wladimir Putin in Moskau immer wahnsinnigere Kapriolen dreht. Aber: Eine Minderheitsregierung müsste sich für jedes Vorhaben eine Mehrheit im Parlament suchen. Selbst wenn man dabei auf bestimmten Feldern Absprachen mit der FDP, den Grünen oder der SPD treffen könnte, wäre das anstrengend. Und ob eine solche Regierung wirklich bis ins zweite Halbjahr 2020 halten würde, wenn Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt?

Genau - es wäre wohl abermals ein Wagnis.

Die Option Minderheitsregierung hatte schon im Spätherbst 2017 prominente Fürsprecher in der CDU, nachdem die FDP die Sondierungen mit Union und Grünen beendet hatte. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble plädierte damals öffentlich genauso dafür wie Jens Spahn, inzwischen Bundesgesundheitsminister. Schäuble, dessen Wort bei den Christdemokraten eine Menge zählt, lobte selbst im vergangenen Herbst noch die Alternative einer Minderheitsregierung. "Wenn die SPD irgendwann nicht mehr kann, geht davon die Welt nicht unter", sagte er im Oktober 2018 der "Bild am Sonntag". Er glaube, "dass wir mit einer Minderheitsregierung eine stabile Regierung hinbekommen würden".

Neuwahlen jedenfalls wünscht sich in Berlin aktuell nur eine Partei: die vor Kraft strotzenden Grünen. Sie könnten sich dabei mit Blick auf ihr Ergebnis bei der jüngsten Europawahl und den aktuellen Umfragewerten sogar Hoffnungen auf Platz eins vor CDU und CSU machen. Alle anderen Parteien liegen mehr oder weniger deutlich unter ihren Ergebnissen bei der Bundestagswahl 2017.

In der Union gibt es eine Menge Sympathie für die Idee

Wer sich dieser Tage mit führenden CDU-Politikern und Unionsbundestagsabgeordneten unterhält, hört jedenfalls eine Menge Sympathie für eine Minderheitsregierung. Aus Sicht der Union hätte das mehrere Vorteile: Man entginge Neuwahlen - und könnte in einer Regierung ohne Koalitionspartner alle Minister- und Staatssekretärsposten unter sich verteilen. Merkel wäre mit einem Schlag so beliebt bei den eigenen Leuten wie lange nicht mehr. Und auch wenn Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus gerade mit Blick auf die Option Minderheitsregierung sagte: "Da fehlt mir momentan ein bisschen die Fantasie, dass das stabil möglich ist" - ohne Fantasie wird es wohl ohnehin künftig nicht mehr gehen in der Bundespolitik.

Auch bei der SPD macht sich mancher führende Genosse Gedanken über den Plan M. Raus aus der Koalition - und dann der Minderheitsregierung hier und da zur Mehrheit zu verhelfen? Das den eigenen Leuten zu erklären, wäre für die neue Führung zweifellos ein ehrgeiziges Unterfangen. Andererseits hatte es schon nach dem Jamaika-Scheitern Fürsprecher in der SPD für ein Modell dieser Art gegeben.

Und dann ist da noch die FDP, deren Vorsitzender Christian Lindner einem Medienbericht zufolge kürzlich vor Unionsabgeordneten sprach und dabei sowohl einen zweiten Jamaika-Versuch erörterte als auch die Unterstützung einer unionsgeführten Minderheitsregierung. Gibt es also bereits Kontakte der Liberalen in dieser Sache zur Union? "Es gibt keine offiziellen Unterredungen dazu", sagt Fraktionsgeschäftsführer Buschmann.

Aber noch ist es ja auch kein offizieller Plan.

Wer steckt hinter Civey-Umfragen?

An dieser Stelle haben Leser in der App und auf der mobilen/stationären Website die Möglichkeit, an einer repräsentativen Civey-Umfrage teilzunehmen. Civey ist ein Online-Meinungsforschungsinstitut mit Sitz in Berlin. Zur Erhebung seiner repräsentativen Umfragen schaltet die Software des 2015 gegründeten Unternehmens Websites zu einem deutschlandweiten Umfragenetzwerk zusammen. Neben SPIEGEL ONLINE gehören unter anderem auch der "Tagesspiegel", "Welt", "Wirtschaftswoche" und "Rheinische Post" dazu. Civey wurde durch das Förderprogramm ProFit der Investitionsbank Berlin und durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung finanziert.

Mitarbeit: Severin Weiland
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