
Europäische Atomdebatte Grüne Hirnschmelze


Atomkraftwerk in Belgien (Symbolbild)
Foto: Philippe Clément / Universal Images Group / Getty ImagesGuck einer an, kommt da doch noch Dampf in die Debatte über Atomkraft und Abschalten? Zum Jahreswechsel schalteten drei der letzten sechs deutschen Atomkraftwerke ab, und die Europäische Kommission steht kurz davor, Atomenergie als klimafreundlich einzustufen.
Das sind wahrlich keine epochalen Wegmarken der deutschen Energiepolitik, doch das bisschen Lage reicht aus, dass die Grünen sich intellektuell nackig machen wie ganz lange nicht . Was die erste Reihe der Partei da an bigotter Selbstrechtfertigung herbeiventiliert, könnte einen halben Windpark betreiben, bei Bedarf auch mit Kraft-Wärme-Kopplung (heißer Luft). Ein paar Beispiele zum Hirnerweichen:
Robert Habeck möchte das Abschalten am liebsten komplett tabuisieren und sich mit Alternativen überhaupt erst befassen, wenn ein Wahlkreis(politiker) das Atommüllendlager aufnimmt. Das ist, mit Verlaub, deutlich zu dreist für einen Minister in der Probezeit: Ein Endlager für den Atommüll, der über die Jahrzehnte angefallen ist, wird die Ampelkoalition in jedem Fall zu suchen haben. Eine, sagen wir, fünfjährige Laufzeitverlängerung von drei Atomkraftwerken darf also nicht unter diesen Vorbehalt gestellt werden. Was da an Müll nachkäme, erfordert gewiss kein eigenes Endlager.
In einer Ministeriumserklärung zum Jahreswechsel lässt Robert Habeck zudem wissen, dass dank des 2011 beschlossenen Atomausstiegs »radioaktive Abfälle in einer Größenordnung von rund 500 Castor-Behältern vermieden« wurden. Dieser Hinweis rangiert in der aktuellen Debatte irgendwo zwischen absichtsvollem Missverstehen und Taschenspielertrick: Niemand würde in die Vergangenheit zurückreisen wollen, um diese Ersparnis in größerem Umfang rückgängig zu machen. Himmel, die 500 nicht gefüllten Castoren aus den letzten zehn Jahren bleiben natürlich nicht gefüllt, sie haben so gut wie nichts mit einer pragmatischen Laufzeitverlängerung von einigen wenigen der ehedem 15 deutschen Atomkraftwerke zu tun. Außer, ja, außer man sieht den Atomausstieg insgesamt in Gefahr, sollte seine allerletzte Etappe ein wenig verlängert werden. Haben die Grünen die Hosen wirklich so gestrichen voll?
Die neue Umweltministerin Steffi Lemke steht Robert Habeck nicht nach. Sie rühmt am Abschalten zur Jahreswende ausdrücklich die »Planbarkeit und Verlässlichkeit« des Vorgangs. Dieselbe Planbarkeit und Verlässlichkeit wurde freilich gerade erst jubelnd über den Haufen geworfen, als es um den Kohleausstieg ging. Er soll, koste es, was es wolle, auf 2030 vorgezogen werden, dabei wurde er erst vor Kurzem in großem Konsens fürs Jahr 2038 festgelegt. Die Grünen verkaufen diese Beschleunigung als kopernikanische Wende der Energiepolitik. »Verlässlichkeit« gibt es, wo es dem eigenen Glauben frommt.
Laut »Tagesschau« erbringen die drei abgeschalteten Atomkraftwerke rechnerisch so viel Leistung wie rund 3000 Windkrafträder. Im vergangenen Jahr wurden aber nur rund 450 neu gebaut und offshore, wo es am meisten lohnt, keines. Entsprechend lächerlich ist das Argument, eine Laufzeitverlängerung für die Atomkraft würde den Ausbau der Erneuerbaren bremsen. Der hängt offenkundig allein an der Politik und den Bedingungen, die sie zu schaffen in der Lage ist. Mutmaßlich werden die drei Atomanlagen also nicht so schnell durch Windkraft zu ersetzen sein, weshalb der wegfallende Strom, wo immer er dann herkommt, die CO₂-Bilanz wohl verschlechtern wird. Verwegener Vorschlag: Die Ampelkoalition könnte das jeweilige Abschalten der Atomkraftwerke an einen äquivalenten Ausbaufortschritt der Windkraft koppeln. Es wäre immerhin interessant zu sehen, ob die parapolitischen Vorfeldorganisationen der Grünen dann weiterhin so frohgemut gegen Windanlagen oder Stromtrassen klagen würden.
Wie man den manifesten Mangel an guten Gründen also auch dreht und wendet: Was die Grünen da antreibt, ist nicht Ratio, sondern Rechthaberei und bewegungspolitische Brauchtumspflege. Keiner anderen Partei würde das durchgelassen.
Trotzdem applaudiert die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, die in einem Interview erklärte, »schon in jungen Jahren« gegen die Atomkraft gewesen zu sein – was offenkundig bis heute reicht, kein zweites Mal nachdenken zu müssen. Die FDP wiederum schweigt so mut- wie wortlos, denn sie regiert ja gerade erst wieder mit. Wo ist bloß Wolfgang Kubicki, wenn man ihn wirklich braucht?
Die CDU schließlich ist in der Atomfrage vor geraumer Zeit vom Netz gegangen, ihr designierter Vorsitzender Friedrich Merz meinte lediglich, man könne nicht überall nur aussteigen. Das geht so fürchterlich allgemein gegen die Grünen, dass sie nur müde lächeln dürften. Ein moderner Konservativer sollte wissen, wo der Unterschied zwischen Provokation und Pragmatismus liegt. Und dass man Grüne, die an der Regierung sind, anders zu stellen hat als Grüne in der Opposition – zum Beispiel immer dann, wenn sie einen regierungsamtlichen Nebenkriegsschauplatz eröffnen.
Beim Protest gegen die EU-Kommission und ihre Pläne, Gas und Atomenergie unter gewissen Bedingungen als klimafreundlich einzustufen, handelt es sich um eine solche Ablenkung vom Eigentlichen: Auf den nationalen Energiemix oder die neue Energiepolitik hätte der Brüsseler Beschluss nämlich keinen automatischen Einfluss, jede Regierung kann verfahren, wie sie meint. Bevor die Grünen also in Europa einen nutzlosen Gesinnungskrieg um die Atomkraft vom Zaun brechen, sollten sie sich lieber langsam vom eigenen Gründungsmythos emanzipieren.
Nur Mut: Die jüngere Hälfte der Grünenwähler wird nicht einmal wissen, wo Brokdorf liegt. Und die ältere hat auch den Kosovo-Einsatz der Bundeswehr geschluckt.