Grüne TV-Aktion Ich glotze, also bin ich

In Deutschland wird intensiv über die Gefahr terroristischer Anschläge diskutiert. Doch die Grünen haben andere Probleme. Unter der Leitung von Fraktionschef Fritz Kuhn versuchen sie, ihre dürftige Medienpräsenz zu erhöhen und schauen 24 Stunden am Stück TV - eine skurrile Inszenierung.

Berlin - Die Pressesprecherin von Fraktionschefin Renate Künast macht einen verzweifelten Eindruck. Kaum dass sie einen Fuß in die als Fernsehzimmer dekorierte Galerie im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg gesetzt hat, entdeckt sie schon den großen Picknickkorb vor Kuhn und seinen Mitstreitern Anna Lührmann, Grietje Bettin und Wolfgang Wieland. Der Korb, prallgefüllt mit Öko-Bier, Öko-Chips und Currywürsten, steht zwischen weißen Sofas und einem riesigen Flachbildschirm.

"Den Korb sollte doch Renate überreichen", zischelt Künasts Mitarbeiterin dem 51-jährigen Kuhn zu, der mittlerweile 17 Stunden Dauerglotzen hinter sich hat. Fritz Kuhn schaut genervt. Die Spitzenkandidatin der Berliner Grünen, Franziska Eichstädt-Bohlig, hatte den Korb mitgebracht, ohne auf Künast zu warten. Unter den Pressesprechern bricht Panik aus: "Was machen wir jetzt?" Schließlich klärt Kuhn die Situation - der Korb kommt noch noch mal weg und Künast darf ihn schließlich doch feierlich präsentieren. Ihr Auftritt wird von einem Kamerateam des ARD Morgenmagazins festgehalten.

Kuhn versucht wirklich alles, um bei dieser an Big Brother erinnernden Aktion die Fäden in der Hand zu behalten. Schließlich war sie seine Idee. Er wollte die Rollen vertauschen. Statt wie im Normalfall Journalisten Politiker würden nun Politiker Medien beobachten, sagt der Fraktionschef. "Medien berichten lieber über ausgefallene Aktionen als über eine Podiumsdiskussion, bei der ich die Positionen der Grünen zur Vielfalt im Fernsehen erläutere", sagt Kuhn. Er weiß, wovon er redet, in den achtziger und neunziger Jahren lehrte der Grüne Kommunikationswissenschaften in Stuttgart.

Die Gefahr sei, dass man sich lächerlich mache. Um dies zu vermeiden, weist er den ehemaligen Berliner Justizsenator, Wolfgang Wieland, gleich zu Beginn der Aktion um sieben Uhr früh an, nicht andauernd Interviews zu geben. Und wenn, dann solle Wieland dafür wenigstens vor die Tür gehen. Es müsse langsam mal eine Fernsehatmosphäre einkehren, sagt er und weiß wovon er redet. Die gleiche Aktion organisierte er schon einmal - 1993 im baden-württembergischen Landtag, damals gemeinsam mit Rezzo Schlauch. Damals ging es den Grünen vor allem um eine "Erhöhung der eigenen Medienpräsenz". Dies schrieb der SPIEGEL vor 13 Jahren und es trifft auch dieses Mal den Kern der Aktion.

Denn trotz aller Bemühungen gelingt Kuhn der Balanceakt nicht. Das nett titulierte Experiment "Ich glotz TV - rund um die Uhr" missglückt. Es musste missglücken, da es von vorneherein eine Täuschung war. Vier Abgeordnete schauen einen ganzen Tag und eine ganze Nacht fern. Und entdecken so, was der Normalbürger ihrer Meinung nach den ganzen Tag treibt. Parteienforscher Franz Walter kann über ein "PR-Mätzchen" dieser Art nur den Kopf schütteln. "Die Grünen sind die bürgerlichste Partei von allen. Die Aktion zeigt ihren elitären Charakter. Selbst wenn sie sich herablassen zu schauen, was der einfache Bürger macht, tun sie dies von oben herab", sagt Walter. Kein Mensch interessiere sich momentan für die Grünen, und um überhaupt mal wieder in den Medien aufzutauchen, würden Kuhn und Co. zu einer solchen Aktion greifen.

"Eine Art Praktikum"

Für Beobachter des TV-Marathons ist das Hauptproblem: Es gibt außer dem Versuch, die Medienpräsenz zu steigern, keine nachvollziehbare Begründung, warum sich vier grüne Abgeordnete die Talkshow "Britt", "Richterin Barbara Salesch" oder - zu später Stunde - die "Sexy Sport Clips" im Deutschen Sportfernsehen anschauen. Das Ganze sei als eine Art Praktikum zu sehen, sagt der 58-jährige Wieland. "Politiker besichtigen ja häufig Betriebe. Und genau so wollen wir mal schauen, wie es eigentlich um die deutsche Fernsehlandschaft bestellt ist." Das Themen-Potpourri umfasste im einzelnen Gewalt im Fernsehen, Vielfalt bei privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern und Jugendschutz. Wer länger als eine Stunde an diesem Experiment teilnimmt, merkt allerdings, wie wenig die Grünen eigentlich bereit sind, sich auf Sendungen einzulassen.

Selten vergehen einmal zwei Minuten, ohne dass etwas kommentiert wird, jemand aufsteht, ein Interview gibt oder einfach in der kühlen, ungemütlichen Galerie herumläuft. Nach der überraschenden Schlussszene eines Spielfilms am späten Abend tritt die Rastlosigkeit der Protagonisten offen zu tage. "Der Film hatte ja was, aber was gucken wir jetzt?", fragt Kuhn in die Runde. "Maischberger?" Ein Nachsinnen gibt es nicht. Die Sendungen werden unter professionellen Gesichtspunkten der Reihe nach abgearbeitet - aber nicht verarbeitet.

Die Grünen können keine zwei Minuten still sitzen. Sie kommentieren einfach alles. Und ihre Meinungen zu den bewegten Bildern stehen schon lange fest. Die 23-jährige Anna Lührmann etwa, vor vier Jahren als Abiturientin jüngste Abgeordnete aller Zeiten, sagt, die öffentlich-rechtlichen Programme würden sich zu stark den Privaten anpassen. Da erwarte sie mehr Qualität. Lührmann wird im Gegensatz zu Kuhn, Bettin und Wieland sehr selten um Interviews gebeten und muss gezwungenermaßen viel fernsehen. Sie langweilt sich offenkundig. Zu Hause habe sie gar keine Mattscheibe, sagt sie und vier Jahre sei es jetzt her, dass sie zuletzt ferngesehen habe.

Da müssen 24 Stunden eine qualvoll lange Zeit sein. Doch Lührmann will nicht klagen. "Ach", antwortet sie, "wir sind es ja gewohnt, lange arbeiten zu müssen." Wer in deutschen Parteien aufsteigen will, muss Sitzfleisch haben, darf auch bei unvorstellbar langweiligen Terminen nicht müde werden und muss stets höchst engagiert aussehen. Das ist auch bei den Grünen so.

Am Ende zieht der Initiator des Dauerglotzens, Fritz Kuhn, deshalb auch ein positives Resümee. Die Aktion sei zwar anstrengend gewesen, aber habe durchaus Erkenntnisse gebracht. Die Vielfalt sei nicht so toll, wie die Masse der Kanäle versprechen würde. Dennoch gebe es durchaus positive Erscheinungen, sowohl bei den Öffentlich-Rechtlichen wie bei den Privaten. "Die Grünen müssen ein paar Vorurteile korrigieren, was die privaten Sender betrifft", sagt der 51-Jährige. Überzeugt zeigt er sich schließlich von der öffentlichen Wirkung der Aktion. "Mit der medialen Resonanz können wir wirklich zufrieden sein."

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