Reaktionen auf Schwarz-Rot "Das ist unterlassene Hilfeleistung"

Unsinnig, ungerecht, unbezahlbar - die Opposition lässt kein gutes Haar am Koalitionsvertrag von Union und SPD. Auch Verbände äußern Kritik: Datenschützer warnen vor der Vorratsdatenspeicherung, der Türkischen Gemeinde geht der Doppelpass-Kompromiss nicht weit genug.
Reaktionen auf Schwarz-Rot: "Das ist unterlassene Hilfeleistung"

Reaktionen auf Schwarz-Rot: "Das ist unterlassene Hilfeleistung"

Foto: Maurizio Gambarini/ dpa

Berlin - Mit Bescheidenheit geht die neue Koalition nicht an ihr Werk: "Wir sind eine Große Koalition, um große Aufgaben für Deutschland zu meistern", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der Unterzeichnung des schwarz-roten Koalitionsvertrags. Vom Mindestlohn bis zur doppelten Staatsbürgerschaft war von den Großkoalitionären über ihre Kompromisse nur Gutes zu hören.

Die Opposition sieht die Koalitionsvereinbarung naturgemäß anders: Schwarz-Rot habe einen "Koalitionsvertrag der unterlassenen Hilfeleistung" ausgehandelt, sagte Linken-Parteichefin Katja Kipping. Vor allem die Bilanz der SPD sei verheerend. Bei zentralen Wahlversprechen hätten die Sozialdemokraten "nicht geliefert".

Linken-Fraktionschef Gregor Gysi kritisierte unter anderem die sogenannte Lebensleistungsrente. Dass es im 24. Jahr der deutschen Einheit noch immer gravierende Unterschiede zwischen Ost und West gebe, sei eine "Frechheit".

Grüne sehen Energiewende ausgebremst

Die Grünen-Vorsitzende Simone Peter kritisierte den fehlenden Mut der Bündnispartner: "Die Große Koalition bleibt auf kleinster gemeinsamer Ebene stehen", sagte sie. Sie kritisierte die Beschlüsse zur Energie- und Umweltpolitik: "Die Energiewende wird ausgehebelt und ausgebremst." Sie könne sich nicht vorstellen, wie Union und SPD vier Jahre erfolgreich durchhalten könnten.

Der Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Anton Hofreiter, hält das Versprechen, ohne neue Steuern und Schulden auszukommen, für unglaubwürdig: "Um die sogenannten prioritären Projekte abzusichern, ist eine Diskussion um zusätzliche Schulden oder Steuern vorprogrammiert." Hofreiter sah aber auch einige positive Ergebnisse der Verhandlungen: "Dazu zähle ich den Einstieg in den Mindestlohn und die - wenn auch zaghafte - Frauenquote für Aufsichtsräte."

Die FDP kritisierte die Ausgabenpolitik scharf. Mit dem Vertrag seien "Schuldentilgung des Staates und Entlastung der Bürger abgeblasen". sagte der designierte FDP-Chef Christian Lindner. Es sei "ein Anschlag auf Deutschlands Glaubwürdigkeit in Europa", Mehrausgaben in Höhe von 23 bis 40 Milliarden Euro einzuplanen. Von seinen europäischen Partnern erwarte Deutschland Solidität bei den Finanzen, verhalte sich nun aber selbst genau gegenteilig.

Türkische Gemeinde ist enttäuscht von Doppelpass-Vorschlag

Die Piraten kritisierten insbesondere die geplante zügige Einführung der Vorratsdatenspeicherung. Merkel setze "das rechtsstaatliche Grundprinzip der Unschuldsvermutung und wesentliche Grundrechte außer Kraft", teilte die Politische Geschäftsführerin Katharina Nocun mit. "Hier helfen auch keine Lippenbekenntnisse, die Zugriffsrechte restriktiv zu gestalten oder Speicherfristen kurz zu halten", so Nocun.

Auch mehrere gesellschaftliche Gruppen kritisierten die Pläne. Ute Elisabeth Gabelmann vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung warnte: "Alle unsere täglichen Kontakte und Bewegungen erfassen zu wollen, ist ein Vorhaben unerhörten Ausmaßes", erklärte sie. Sie sprach von einem "Dammbruch für unsere Freiheit und informationelle Selbstbestimmung". Auch Bestsellerautorin Juli Zeh äußerte auf SPIEGEL ONLINE massive Kritik an der Vorratsdatenspeicherung.

Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde, Kenan Kolat, zeigte sich "tief enttäuscht" über den Kompromiss zur doppelten Staatsbürgerschaft. Der Plan, in Deutschland geborenen Menschen einen Doppelpass zu ermöglichen, gehe nicht weit genug. Dass es für ältere Generationen keine Verbesserungen gebe, sei ungerecht. Die erste und zweite Generation der türkischen Zuwanderer habe alles für Deutschland gegeben.

Von den Gewerkschaften kam dagegen Lob für die Vereinbarung: Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer begrüßte die Pläne bei Rente, Mindestlohn und Leiharbeit. "Der Vertrag ist weder die Gründungsurkunde einer SPD- noch einer CDU/CSU-Alleinregierung", sagte Sommer. Vor diesem Hintergrund hätten die Gewerkschaften die erzielten Kompromisse zu bewerten.

Auch die EU-Kommission äußerte sich positiv über die Koalitionsvereinbarung: "Dies ist ein wichtiger Schritt in dem laufenden politischen Prozess hin zu einer neuen deutschen Regierung", sagte ein Kommissionssprecher. Die EU-Behörde zeigte sich erfreut über die "starke proeuropäische Dimension" des Vertrags.

ade/fab/dpa/AFP
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