

Berlin/Tübingen - Es ist ein sensationelles Ergebnis: 62 Prozent bei der Wiederwahl zum Tübinger Oberbürgermeister, im ersten Durchgang - und das als Grünen-Politiker.
Es war zuletzt viel geschrieben worden über Boris Palmer, 42. Dass er bei der OB-Wahl scheitern könnte und das Ende seiner politischen Karriere drohe. Palmer selbst hat nie an der Wiederwahl gezweifelt. Er weiß ja, was er vorzuweisen hat: einen hellen Kopf, Reden wie kaum ein Politiker in Deutschland. Und Palmer weiß, was er in der Stadt am Neckar geleistet hat: Die Wirtschaft boomt, die Bevölkerung wächst, gleichzeitig sinkt die Umweltbelastung für die Tübinger.
Aber Palmer sieht inzwischen auch ein, dass er eine große Schwäche hat: "Ich will noch freundlicher werden", sagte er im Jubel des Wahlabends. Bemerkenswert für einen, der gerade den größten Erfolg seiner Karriere feiert. Aber Palmer will mehr. Und um das zu schaffen, "muss ich an mir arbeiten".
"Der Mann, der aus der Kälte kam" war neulich ein Palmer-Porträt in der "taz" überschrieben. Besser kann man das Defizit des Grünen-Politikers nicht zusammenfassen: Palmer ist selbst immer am meisten von seinen Ideen überzeugt. Er ist ein geübter Besserwisser.
Palmer ähnelt in gewisser Weise Trittin
Dabei ähnelt Palmer einem Parteifreund, der es weit gebracht hat: Jürgen Trittin. Der stieg als kalter Rechthaber bei den Grünen auf. Dass er zuletzt als Spitzenkandidat im Bundestagswahlkampf 2013 scheiterte, dürfte allerdings auch an seinem Image als grüner Oberlehrer gelegen haben.
"Was ist der Unterschied zwischen Boris Palmer und Jürgen Trittin", fragt nun ein junger Mann auf der Facebook-Seite des Tübinger Oberbürgermeisters? Die Antwort liefert er selbst: "53,3 Prozent", also die Differenz zwischen Palmers Ergebnis vom Sonntag und dem der Bundes-Grünen im vergangenen Herbst. Palmer kann darüber lachen, zumal er und Trittin keine Freunde sind. Er muss aber noch beweisen, dass ihm das Negativbeispiel wirklich eine Lehre ist.
Palmer galt schon immer als Überflieger: Abitur mit 1,0, in Tübingen entwickelte er als Student ein Nachtbuskonzept, das später umgesetzt wurde. Im Landtag machte sich der junge Abgeordnete rasch einen Ruf als kluger Verkehrspolitiker. Bundesweit bekannt wurde Palmer als Grünen-Wortführer bei der Schlichtung zu Stuttgart 21. Selbst die Gegenseite um Bahn-Vorstand Volker Kefer erkannte die Kompetenz Palmers an.
"Sacharbeit, klare Ansagen und Geradlinigkeit werden in der Politik belohnt - das ist meine Erkenntnis aus dem Wahlsieg", sagt Palmer. Aber seine ewigen Rechthabereien haben ihm eben auch in Tübingen Sympathien gekostet.
Bei vielen Grünen ist Palmer unten durch
Von seiner eigenen Partei ganz zu schweigen: Bei den Grünen, jedenfalls außerhalb Baden-Württembergs, hat sich der Ober-Realo mit seiner kompromisslosen Art so viele Feinde gemacht, dass er auf dem Parteitag im November vor zwei Jahren brutal abgestraft wurde: Bei der Wahl zum wichtigsten Gremium der Partei, dem Palmer bis dahin angehört hatte, landete er auf dem letzten Platz. Selbst auf seinem Realo-Flügel hielt sich das Mitleid damals in Grenzen.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat Palmer nicht fallen gelassen. Am Sonntagabend ist er eigens nach Tübingen gekommen, um mit Palmer zu feiern. Palmer gilt als politischer Ziehsohn des Regierungschefs: Als Kretschmann Ministerpräsident wurde, sahen viele in Palmer seinen natürlichen Nachfolger.
"Ich freue mich sehr über das hervorragende Ergebnis für Boris Palmer", sagt Kretschmann nun. Es sei der "verdiente Lohn für die Leistungen, die Palmer in den vergangenen acht Jahren für die Stadt erbracht hat". Und: "Es ist wichtig für Tübingen und gut für das Land."
Sollte Kretschmann in anderthalb Jahren als Regierungschef wiedergewählt werden, könnte Palmer ein heißer Kandidat für die Nachfolge sein - aber nur, wenn er jetzt wirklich lernt. Von Kretschmanns Leitmotiven: Empathie und Demut.
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Erfolgreicher Wahlkampf: Am Sonntag wurde der Grünen-Politiker Boris Palmer in Tübingen mit knapp 62 Prozent als Oberbürgermeister wiedergewählt.
Prominenter Gast: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann kam zum Feiern exta nach Tübingen - er hält große Stücke auf Palmer.
Eingespieltes Duo: Palmer war einst Stellvertreter von Kretschmann als Fraktionschef im Stuttgarter Landtag, während der Schlichtung im Stuttgart-21-Streit schickte ihn der Ministerpräsident als Grünen-Wortführer vor.
Verkehrspolitiker: Palmer ist überzeugter Radfahrer und hat deshalb sein Dienstauto als Tübinger OB abgeschafft.
Blick aus dem Tübinger Rathaus: Palmer ist ein hochtalentierter Politiker - aber bisher fehlte ihm oft die Wärme im Umgang mit Bürgern und Parteifreunden.
Bernd Weißbrod/ dpa
Erster Sieg: Palmer nach der Wahl 2006, bei der er die amtierende SPD-Oberbürgermeisterin in Tübingen hinter sich ließ.
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