Behördenwarnungen Verfassungsschutzchef fordert größere Zurückhaltung bei Terror-Alarm

Spezialeinheiten der Polizei in München am 31. Dezember 2015: "Wir müssen lernen, wieder mehr Risiko auszuhalten"
Foto: AP/dpaDas Raster, mit dem Behörden die Gefahr für die öffentliche Sicherheit einzuschätzen versuchen, trägt den sperrigen Titel "Prognosemodell für Gefährdungsbewertungen". Auf einer achtstufigen Skala soll sich bestimmen lassen, wie wahrscheinlich etwa ein Terroranschlag ist. Stufe 1 bedeutet demnach, dass "mit einem gefährdenden Ereignis zu rechnen ist". Stufe 8 wiederum meint, dass ein solches Ereignis "auszuschließen ist". Dazwischen liegt viel Grau.
Die vor fünf Jahren geschaffene Skala wird inzwischen so häufig verwendet wie noch nie. So hat sich nach Angaben des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) die Zahl der sogenannten Gefährdungshinweise binnen eines Jahres verdreifacht. Durchschnittlich an etwa jedem dritten Tag erhielten die Behörden 2015 einen Tipp auf einen möglichen Terroranschlag. In der Folge wurden unter anderen ein Länderspiel und ein Karnevalszug abgesagt, eine Demonstration in Dresden verboten und Münchner Bahnhöfe an Silvester geräumt. (Lesen Sie die Hintergründe dazu im SPIEGEL.)
Als erster hochrangiger Sicherheitsbeamter fordert BfV-Chef Hans-Georg Maaßen daher nun eine Debatte über einen maßvolleren Gebrauch des allgemeinen Alarms: "Auf Grund der Erfahrungen der letzten Zeit halte ich im Umgang mit den Warnhinweisen ein abgewogenes Risikomanagement für nötig", so Maaßen. "Wir dürfen unser öffentliches Leben nicht von den Drohungen der Terroristen lahmlegen lassen."
Im Interview mit SPIEGEL ONLINE hatte der damalige Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter im Bundeskriminalamt, Andy Neumann, bereits im Dezember zu einer Diskussion über das richtige Maß aufgerufen: "Wir müssen lernen, wieder mehr Risiko auszuhalten", sagte Neumann. Zugleich erklärte der Staatsschützer, "dass gerade im Nachgang großer Terrorlagen die Bereitschaft von Verantwortlichen, Restrisiken zu tragen, gegen null geht."
Risiko eingehen oder nicht?
Auch ein Landes-Verfassungsschützer bemerkte in seiner eigenen Behörde, wie sich die Dynamik verändert hat. Viele Hinweise auf geplante Anschläge, die man früher "heimlich und in aller Ruhe" abgearbeitet habe, würden nun in der Hierarchie hektisch nach oben gereicht. "Gelangen sie auf die politische Ebene, ist die Öffentlichkeit informiert und das große Brimborium beginnt", sagte der Beamte dem SPIEGEL. "Ich habe manchmal das Gefühl, in diesen Tagen gehört eine große Terrorlage zum guten Ton eines Innenpolitikers."
Gleichwohl beschreiben Beamte die Sicherheitslage derzeit als besonders ernst. Nicht einmal nach den Anschlägen vom 11. September 2001 sei die Gefahr eines islamistischen Anschlags in Europa so groß gewesen wie heute. "Wir müssen in jedem Einzelfall prüfen, welche Hinweise spezifisch und glaubhaft sind", sagt Verfassungsschützer Maaßen.
Immer aber ist die Abwägung ein Dilemma: Risiko eingehen oder nicht? Freiheit oder Sicherheit? Ein Staatsschützer formuliert es so: "Es ist im Grunde die Frage, in welcher Höhe Sie als Verantwortlicher verlieren wollen." Die Wahl sei: Entweder womöglich die Schuld am Tod vieler Menschen zu tragen oder eben unnötige Aufregung verursacht zu haben. "Da fällt die Antwort meist nicht schwer", so der Beamte. Doch die Folge ist - auch das registrieren die Sicherheitsbehörden - eine zunehmende Verunsicherung der Bevölkerung. Die aber spielt den Terroristen ebenfalls in die Hände.
Leichte Beute für Islamisten
Die Information korrekt zu bewerten, ist kein leichtes Geschäft. Vielfach kommen die Hinweise auf mögliche Anschläge von anderen Sicherheitsbehörden, häufig aus dem Ausland. Für die Deutschen bedeutet das oft, dass sie die Ursprungsquelle selbst nicht einschätzen können: Handelt es sich um eine Bemerkung in einem abgehörten Telefonat? Stammt die Information von einem zuverlässigen Zuträger? Aus welchen Motiven handelt er oder sie? Manchmal füttert ein Informant auch gleich mehrere Geheimdienste, was dann zu besonderer Verwirrung führt. Bei der jüngsten Terrorwarnung in München war das der Fall.
Für eine zusätzliche Verschärfung der Sicherheitslage sorgt zudem die stetig steigende Zahl von Dschihadisten, die aus Syrien und dem Irak nach Deutschland zurückkehren. Nach Angaben des BfV ist von den 790 Ausgereisten inzwischen ein Drittel wieder in der Bundesrepublik. 130 Islamisten sind im Bürgerkrieg gestorben. Zugleich wächst das salafistische Milieu in Deutschland. Der Verfassungsschutz rechnet der Szene inzwischen 8350 Personen zu.
Und noch etwas könnte die Situation künftig erschweren: Vielfach agitieren Islamisten inzwischen auch vor oder in Asylbewerberheimen. In 230 Fällen haben die Sicherheitsbehörden in den vergangenen Monaten registriert, dass Salafisten Kontakt zu Flüchtlingen gesucht haben. BfV-Chef Maaßen warnte bereits im Herbst davor, dass jugendliche Flüchtlinge, die allein nach Deutschland gekommen seien, "eine leichte Beute für Islamisten sein könnten". Daran hat sich nichts geändert.
Zusammengefasst: Immer öfter erhalten deutsche Behörden Hinweise auf mögliche terroristische Bedrohungen. Doch wie sollen sie damit umgehen? Verfassungsschutzchef Maaßen warnt vor Dauerhysterie und plädiert für etwas mehr Gelassenheit im Umgang mit möglichen Attentaten. Gleichwohl räumen die Ermittler ein, dass das Risiko für einen Angriff in Europa derzeit enorm hoch ist.