Hartz-IV-Debatte Von der Leyen fordert Bildung statt Bargeld

Ihr Ministerium arbeitet mit Hochdruck an der Korrektur der Hartz-IV-Sätze: Im SPIEGEL-ONLINE-Interview skizziert Arbeitsministerin Ursula von der Leyen nun Eckpunkte der Reform. Mehr Geld für Empfänger sei die ineffizienteste Lösung, sie würde lieber in die Ausbildung der Kinder investieren.
Bundesarbeitsministerin von der Leyen (CDU): "Ein Treibsatz für die Bildungsdiskussion"

Bundesarbeitsministerin von der Leyen (CDU): "Ein Treibsatz für die Bildungsdiskussion"

Foto: Jens Kalaene/ dpa

Berlin/Essen - Die Debatte um die Interpretation des Verfassungsgerichtsurteils zu den Hartz-IV-Sätzen reißt nicht ab: Wie hoch müssen die Sätze sein? Verkraftet die Volkswirtschaft eine Erhöhung? Und was müssen Hartz-IV-Empfänger im Gegenzug leisten?

Josef Schlarmann

Der Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) der Union, (CDU), hat gerade erst vorgeschlagen, Langzeitarbeitslose bei Zeitarbeitsunternehmen zu beschäftigen. "Die Zeitarbeitsbranche könnte Hartz-IV-Empfänger weiterbilden und sie ihrer Qualifikation gemäß einsetzen", sagte der CDU-Politiker dem Magazin "Wirtschaftswoche". Die Branche kenne sich "mit Menschen aus, die schwierige Biografien haben".

Bundesverfassungsgerichts

Zu mehr Mut, bei der Bewältigung des Problems neue Weg zu beschreiten, hat derweil der neue Vizepräsident des , Ferdinand Kirchhof, die Politiker aufgerufen. Zu dem erst kürzlich verkündeten Urteil zu Hartz IV sagte er: "Wir haben dem Gesetzgeber in unserem Urteil sämtliche Spielräume für die Höhe der Regelleistungen belassen. Wir haben lediglich verlangt, dass der Gesetzgeber die Zahlen dafür in einem transparenten Verfahren empirisch ermittelt und folgerichtig festlegt."

Wie weit ist die Arbeit an der Umsetzung dieses Richterspruchs inzwischen eigentlich gediehen? Der Teufel steckt im Detail - Bundesministerin Ursula von der Leyen erklärt im Interview mit SPIEGEL ONLINE, welche Faktoren berücksichtigt werden müssen und wer in die Gespräche eingebunden werden muss. Sie hat allerdings bereits jetzt eine klare Präferenz, wie sie dem Urteil des Verfassungsgerichts gerecht werden möchte:

Hartz-IV

SPIEGEL ONLINE: Frau von der Leyen, das Bundesverfassungsgericht hat die -Regelsätze für Kinder für verfassungswidrig erklärt, nun müssen Sie diese bis zum Jahresende korrigieren. Wie weit sind Sie?

Von der Leyen: Wir arbeiten mit Hochdruck daran. Ein Jahr hört sich lang an, aber es ist eine äußerst knapp bemessene Zeitspanne. Wir müssen zunächst eine exakte Bestandsaufnahme erstellen, welche Sach-, Dienst- oder Geldleistungen für die Sicherstellung des Existenzminimums zu berücksichtigen sind. Dann benötigen wir vom Statistischen Bundesamt die neuesten Zahlen zu den Lebenshaltungskosten und dem Verbraucherverhalten verschiedener Einkommensgruppen. Die Datensätze und Auswertungen liegen trotz für diesen Zweck gebündelter Kräfte noch nicht vor. Erst auf dieser Grundlage können wir die Regelleistungen für die Kinder, also die Geldleistungen für das körperliche Existenzminimum, aber auch die Bedarfe für Bildung und soziale Teilhabe ganz korrekt berechnen.

SPIEGEL ONLINE: Können die betroffenen Familien mit mehr Geld rechnen?

Bundesverfassungsgericht

Von der Leyen: Ich sage ganz deutlich: Es wird nicht automatisch mehr Bargeld für die Familien geben. Das hat nicht gesagt, gebt den Menschen einfach mehr Geld. Es geht doch um Teilhabe am Leben, um Bildung und Chancengleichheit. Die Richter haben uns auferlegt, eine Antwort auf die Frage zu geben: Was brauchen unsere Kinder eigentlich, damit sie für die Welt der Zukunft gewappnet sind?

SPIEGEL ONLINE: Was ist Ihre Antwort?

Von der Leyen: Das Verfassungsgerichtsurteil ist ein Treibsatz, der unsere Bildungsdiskussion befeuert. Wir müssen neu definieren, was ein Kind an Bildung braucht. Wie stellen wir sicher, dass es alle Unterstützung und Materialien hat, um im Unterricht mitzukommen? Soll es notwendige Nachhilfe weiterhin zuallererst für Kinder geben, deren Eltern sich das leisten können? Diese Frage geht aber über die Schule hinaus. Zur Bildung gehören etwa auch der Zugang zur Kultur, zu Musik und Sport. Meine Aufgabe ist es, für die bedürftigen Kinder zu sorgen, ich finde aber, diese Möglichkeiten sollten künftig allen Kindern zukommen.

SPIEGEL ONLINE: Umsonst ist das allerdings nicht zu haben.

Von der Leyen: Das habe ich auch nie behauptet. Es mag sein, dass es am Ende die Gesellschaft erst einmal mehr Geld kostet. Aber was ist die Alternative? Wenn diese Kinder nicht von klein auf gefördert werden, wenn sie die Schule abbrechen oder die Lehre nicht schaffen, dann ist das doch der direkte Weg in die Langzeitarbeitslosigkeit. Das wird richtig teuer! Dagegen ist die frühe Investition in Bildung der direkte Weg in Unabhängigkeit, die Möglichkeit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, etwas aufzubauen. Langfristig ist jeder Cent heute klug investiert, weil gut ausgebildete Kinder später Steuern zahlen, diese Land voranbringen und unser Alter finanzieren...

SPIEGEL ONLINE: ...die sie aber nicht dem Einzelnen geben. Sie setzen auf Sachleistungen wie Bildungsgutscheine. Aber Sie wollen den Eltern kein Geld in die Hand geben, weil Sie anscheinend Sorge haben, dass das Geld gar nicht dafür verwendet wird. Misstrauen Sie den Eltern?

Von der Leyen: Es geht doch nicht um Entmündigung. Ich spreche von Chancen und Möglichkeiten, von denen sehr viele Kinder profitieren können, wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen; nicht nur die Kinder von Hartz-IV-Empfängern. Wir würden doch auch niemals Eltern einfach Geld in die Hand geben und sagen, sucht euch selbst einen Lehrer für eure Kinder. Für die Schulen sorgt aus gutem Grund bei uns der Staat. Mehr Geld bedeutet nicht die Lösung des Problems, sondern es überlässt die Menschen wieder sich selbst. Sach- und Dienstleistungen nehmen auch den Staat in die Pflicht, den Eltern gute Angebote für die Bildung ihrer Kinder zur Auswahl zu stellen. Wir haben in diesem Land eine hervorragende Infrastruktur mit Bibliotheken und Musikschulen, Schwimmbädern und Turnhallen, wir haben tolle Sportvereine. Jetzt geht es darum, dass auch wirklich alle diese Infrastruktur nutzen können. Ich möchte nicht, dass ein Kind aus einer Hartz-IV-Familie seinen Nachmittag in der Bahnhofshalle verbringt statt im Sportverein, weil die Beitragszahlungen nicht geregelt sind. Oder, weil ihm die Turnschuhe und das Trikot fehlen.

SPIEGEL ONLINE: Dafür brauchen Sie aber die Kommunen und Länder, schließlich ist Bildung Länderkompetenz.

Von der Leyen: Genau darüber machen wir uns im Moment Gedanken. Nämlich, wie wir gemeinsam mit Jobcentern, Kommunen und Ländern ein System entwickeln, das gewährleistet, dass jedem Kind zukommt, was ihm zusteht. Derzeit läuft der Sondierungsprozess mit Expertinnen und Experten auch zu der Frage: Gibt es bereits bestehende Strukturen, die wir einbinden können und mit denen wir in einem neuen Regelsystem gemeinsam unsere Ziele erreichen können? Wenn wir das Hilfesystem für bedürftige Kinder auf neue Beine stellen, brauchen wir breit akzeptierte, kurze und unkomplizierte Wege.

SPIEGEL ONLINE: Letztendlich müssen Sie aber Geld an die Kommunen und Länder geben, weil diese die Bildung und die Infrastruktur finanzieren müssen. Wie soll das gehen?

Von der Leyen: Die Antwort auf die Frage, wie die konkreten Geldflüsse nachher aussehen werden, braucht noch einige Zeit. Sicher ist nur: Die für den Staat am wenigsten anstrengende, aber auch ineffizienteste Methode ist, einfach mehr Geld auszuschütten. Damit weiß ich aber überhaupt noch nicht, ob die Kinder tatsächlich davon profitieren. Ich werde mich mit den Ländern und Kommunen an einen Tisch setzen, um Wege zu finden, wie wir auch wirklich unsere gemeinsamen Ziele erreichen. Wir stecken mitten im demografischen Wandel. Schauen Sie sich an, wie klein die Generation ist, die in 30 Jahren unser Land tragen muss, wenn wir alt sind. Dann ahnen Sie, was diese Kinder später schultern müssen. Wir müssen ihnen die Chance geben, das auch leisten zu können und ihre Talente nicht verkümmern lassen. Das ist unsere Hauptaufgabe.

Das Interview führte Markus Dettmer. Mit Material von ddp und Reuters
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