Hartz-IV-Provokationen Merkel distanziert sich von Westerwelle

Guido Westerwelle polarisiert die Politik. Der FDP-Chef verschärft seine Kritik an der "Hartz-IV-Mentalität" - und löst eine Welle der Empörung aus. Jetzt geht auch Angela Merkel auf Distanz zum Vizekanzler: Dessen Wortwahl sei nicht ihre Ausdrucksweise.
Merkel mit Außenminister Westerwelle: "Das ist sicherlich weniger der Duktus der Kanzlerin"

Merkel mit Außenminister Westerwelle: "Das ist sicherlich weniger der Duktus der Kanzlerin"

Foto: ? Francois Lenoir / Reuters/ REUTERS

Guido Westerwelle

Berlin - Als Außenminister muss diplomatisch vorgehen, doch im Inland poltert der FDP-Chef wie zu Oppositionszeiten. Heftige Kritik erntet er nun für einen Beitrag, in dem er nach dem Urteil der Verfassungsrichter über Hartz-IV-Sätze das Leistungsprinzip predigte und "geistigen Sozialismus" sowie den Vollversorgerstaat anprangerte.

Von dieser Wortwahl distanziert sich nun auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). "Das ist sicherlich weniger der Duktus der Kanzlerin", sagte Vize-Regierungssprecherin Sabine Heimbach an diesem Freitag in Berlin. Die "Sprachführung" sei aber "individuell unterschiedlich". Die Kommentierung sei eine Stellungnahme innerhalb einer parteipolitischen Diskussion. Heimbach betonte zugleich, in der Bundesregierung herrsche "Einvernehmen, dass es um eine schnelle Umsetzung des Hartz-IV-Urteils geht".

Die Verfassungsrichter hatten am Dienstag die Hartz-IV-Regelsätze für Erwachsene und Kinder für verfassungswidrig erklärt und eine Neuberechnung angeordnet. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sprach daraufhin von einer "wegweisenden, bahnbrechenden" Entscheidung, man wolle den Umbau rasch angehen. Von der Leyen ging nun auf Abstand zu Westerwelle.

Auch die CSU kritisierte den FDP-Chef heftig. Der Generalsekretär der Christsozialen, Alexander Dobrindt, mahnte in der "Berliner Zeitung", soziale Marktwirtschaft sei "nicht nur für die Starken da". Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) sagte, Westerwelle mobilisiere "Neidreflexe, um für seine Klientel daraus Vorteile zu ziehen".

Westerwelle hatte sich mit deutlichen Worten in die Hartz-IV-Debatte eingeschaltet: In einem Zeitungsbeitrag attestierte er der Diskussion "sozialistische Züge". Außerdem warnte er vor einer Missachtung des Leistungsdenkens: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern."

Doch Westerwelle ruderte nach Kritik nicht zurück, sondern bekräftigte seine Haltung. Von seiner Kommentierung werde er keine Silbe zurückzunehmen. Kleine und mittlere Einkommen dürften nicht länger "die Melkkühe der Gesellschaft" sein. Die wütenden Reaktionen aus dem linken Lager zeigten ihm doch, dass er den Finger in die Wunde gelegt habe.

Am Freitag legte der FDP-Chef sogar noch nach und forderte eine Entschuldigung von seinen Kritikern. "Diejenigen, die die Leistungsbereitschaft der Bürger mit Füßen treten, sollten sich entschuldigen", sagte Westerwelle in Berlin. In der Hartz-IV-Debatte dürfe man nicht nur auf jene achten, die auf den Sozialstaat angewiesen sind, sondern auch auf jene, die ihn bezahlten: "Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Das muss man sagen dürfen. Alles andere ist Sozialismus."

Westerwelle fordert Entschuldigung von Kritikern

Opposition und Gewerkschaften kritisieren den FDP-Chef für solche Aussagen heftig. Sie werfen ihm Gefährdung des sozialen Friedens in Deutschland vor. Westerwelle scheine endgültig wieder in seine Rolle als Schreihals aus Oppositionszeiten zurückgefallen zu sein, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel im Interview mit SPIEGEL ONLINE.

Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) sprach von einer Entgleisung: "Wer so etwas sagt, hat die Lebensrealität der Menschen völlig aus dem Auge verloren. Ich finde, da ist eine Entschuldigung fällig."

Grünen-Chef Cem Özdemir urteilte, die FPD "spielt gnadenlos Geringverdiener gegen Arbeitslose aus und zündelt so am sozialen Frieden im Land". Westerwelle schwebe auf einer wattigen Luxuswolke. Der Bundesgeschäftsführer der Linken, Dietmar Bartsch, kritisierte: "Kaum brechen die Umfragewerte zu Recht ein, keilt und tritt Westerwelle nach den Schwächsten in der Gesellschaft."

Absturz in Umfragen und Kritik aus den eigenen Reihen

In der Wählergunst war die FDP zuletzt deutlich abgestürzt - auf acht Prozent. Bei der Bundestagswahl hatte sie noch 14,6 Prozent erreicht. Zwei Drittel der Befragten gaben in dem "Stern"-RTL-Wahltrend an, ihre Erwartungen an die FDP seien enttäuscht worden. Sie warfen der Partei Inkompetenz, Konzeptionslosigkeit und Überforderung vor oder eine unrealistische Haltung in der Steuer- und Finanzpolitik.

Auch intern gab es scharfe Kritik an dem Kurs der Liberalen. Zuerst prangerte Vorstandsmitglied Wolfgang Kubicki das Führungschaos an, dann schloss sich der hessische FDP-Vorsitzende Jörg-Uwe Hahn an. Das schlechte Bild der schwarz-gelben Koalition im Bund hänge damit zusammen, dass die Liberalen keine ausreichenden Pläne für die Regierungsarbeit entworfen hätten, sagte der Wiesbadener Vize-Ministerpräsident am Donnerstag der "Welt". Hahn, der auch Mitglied des Bundesvorstands seiner Partei ist, sagte: "Wir waren nicht vorbereitet." Es habe für die Zeit nach dem 27. September 2009, dem Tag der Bundestagswahl, ein "Denkverbot" gegeben: "Und das kam vom Parteivorsitzenden." Hahn: "Das war ein Fehler." Er betonte aber später, er stehe hinter den jetzigen Attacken Westerwelles.

Der Meinungsforscher Matthias Jung sieht die FDP mit personellen, strukturellen und inhaltlichen Schwierigkeiten konfrontiert. "In seiner Ämterkombination als Außenminister, Vizekanzler und Parteichef bedient sich Westerwelle nach wie vor einer Diktion der Schärfe und Härte wie in den vergangenen elf Jahren als Oppositionsführer", sagte Jung, der Vorstandsmitglied der Forschungsgruppe Wahlen ist. "Als Außenminister müsste er einen massiven Rollenwechsel vornehmen und ein Stück über den Parteien stehen. Das ist aber nicht erkennbar, wie die jüngsten Auseinandersetzungen zu Hartz IV erneut zeigen."

Errechnung der Hartz-IV-Regelsätze (Stand 2003)

Kategorie Ausgaben* Anteil in Prozent, den die Regierung Hartz-IV-Empfängern anerkennt Hartz-IV-Bezug in Euro
Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren 133 96% 127
Bekleidung und Schuhe 34 100% 34
Wohnen einschl. Energie, -instandhaltung 322 8% 24
Einrichtungs-, Haushaltsgegenstände 27 91% 25
Gesundheitspflege 18 71% 13
Verkehr 59 26% 16
Nachrichtenübermittlung 40 75% 30
Freizeit, Unterhaltung, Kultur 71 55% 39
Bildungswesen 7 0% 0
Beherbergungs- /Gaststättendienstleistung 28 29% 8
Andere Waren und Dienstleistungen 40 67% 27
Insgesamt 779
Insgesamt ohne Wohnkosten 483 345
*Errechnung des Hartz-IV-Satzes auf Basis der Verbrauchsausgaben der untersten 20 Prozent der nach Nettoeinkommen geschichteten alleinstehenden Haushalte. Empfänger, die überwiegend von Leistungen der Sozialhilfe gelebt haben, sind nicht berücksichtigt. Quelle: EVS 2003 **Seit 1. Juli 2009 beträgt der Regelsatz 359 €.
kgp/ddp/dpa/Reuters
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