Hausdurchsuchungen Razzia im rechtsfreien Raum
München - Eigentlich ist Markus Müller, 26, kein misstrauischer Mensch. Doch ausgerechnet seine eigene Wohnung inspiziert er bisweilen ganz genau. Hat jemand das Mousepad verrückt? Liegt die Zahnbürste am richtigen Ort?
Vier Jahre ist es her, dass Müller das Vertrauen in die Unverletzlichkeit seiner Privatsphäre verlor. "In der ersten Zeit nach der Hausdurchsuchung fühlte ich mich ausgeliefert und hilflos", sagt der Fachinformatiker. Die um den Beschlag herum zersplitterte Türe seiner Wohnung erinnert daran, mit welcher Wucht die Staatsmacht an jenem Dezembertag in sein Haus eindrang.
22,90 Euro war der Staatsanwaltschaft und dem zuständigen Ermittlungsrichter Müllers Privatsphäre wert. 22,90 Euro - so viel kostete die Nutzung einer Sex-Seite, auf der Müller angeblich gesurft und anschließend eine fremde Kontoverbindung angegeben haben soll. Es war nur ein vager Verdacht - der Zugang zum Online-Portal soll mit seiner IP erfolgt sein -, der dazu führte, dass die Münchner Polizei seine Wohnung filzte.
Die Folgen jedoch waren für den IT-Fachmann ganz konkret spürbar: Die Polizei beschlagnahmte seinen Computer, auf dessen Festplatte Müller sein digitales Tagebuch, Familienbilder, Liebesbriefe und andere sensiblen Daten gespeichert hatte. Selbst den dazugehörigen Monitor nahmen die Ermittler mit.
Später stellte das Landgericht München fest, dass die Durchsuchung von Müllers Wohnung unverhältnismäßig und rechtswidrig war. Die Staatsanwaltschaft musste die Ermittlungen schließlich einstellen. Im vergangen Jahr erhielt Müller eine staatliche Entschädigung in Höhe von 420 Euro. "Allein die Anwaltskosten waren fünfmal so hoch", schimpft der junge Mann.
"Rechtswidrige Durchsuchungen nehmen überhand"
Müller ist kein Einzelfall. "Rechtswidrige Durchsuchungen nehmen zunehmend überhand", sagt Alexander Keller, Vorsitzender von Pro Justitia. Die vor einigen Jahren vom ehemaligen SAP-Chef Dietmar Hopp gegründete Stiftung, deren Beirat auch die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger angehört, setzt sich seit Jahren für mehr Rechtsstaatlichkeit ein.
Möglicherweise bis zu einigen tausend Hausdurchsuchungen ohne ausreichende Rechtsgrundlage gibt es pro Jahr in Deutschland, schätzt Pro Justitia. "Mancher Betroffene bekommt noch Jahre später einen Horror, wenn es plötzlich frühmorgens klingelt", weiß Keller.
Auch Michael Sack von der Initiative Bayerischer Strafverteidiger geht davon aus, "dass Wohnungen häufig ohne ausreichende rechtliche Grundlage durchsucht werden". Der auf solche Fälle spezialisierte Düsseldorfer Strafverteidiger Udo Vetter hat "beinahe täglich" mit entsprechenden Vorkommnissen zu tun, bei denen er "erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit" hat.
Manchmal beruht der Verdacht, der zu einer Hausdurchsuchung führt, sogar nur auf Gerüchten und Denunziationen. So habe die Polizei die Wohnung eines Mandanten allein deswegen durchsucht, weil ein Zeuge den Beamten berichtete, ein anderer Mann habe ihm in einer Kneipe erzählt, Vetters Mandant sei ein Dealer. "Der Zeuge hat laut den Polizeiakten noch nicht einmal gesagt, dass er dem Mann geglaubt hat. Dennoch sprachen Staatsanwalt und Ermittlungsrichter von einer ausreichenden Rechtsgrundlage", wettert der Anwalt.
In einem anderen Fall durchsuchte die Polizei laut Vetter die Wohnung eines Mannes mit dem Verdacht dort Raubkopien zu finden - nur weil sie diesen mit einer unbeschrifteten CD auf der Straße angetroffen hatte. Besonders häufig würden Ausländer Opfer ungerechtfertigter Durchsuchungen. Auch Selbständige und Unternehmer sind laut Pro Justitia oft betroffen.
Karlsruhe rügt die Durchsuchungspraxis - doch die Ermittlungsrichter schauen trotzdem nicht genau hin
Mehrfach rügte das Bundesverfassungsgericht jüngst Behörden, die wegen des Verdachts einer Ordnungswidrigkeit Privatwohnungen von Handwerkern rechtswidrig durchsucht hatten. "Eine grobe Durchsicht der Verfahren für das Jahr 2006 ergab, dass in diesem Jahr rund 90 Verfahren eingegangen sind, die den Themenkomplex Durchsuchung und Beschlagnahme betrafen", sagt Dietlind Weiland, Sprecherin des Bundesverfassungsgerichts auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE.
Das höchste Gericht kritisierte in den vergangen beiden Jahren den leichtfertigen Umgang seitens der Staatsanwaltschaft und des Ermittlungsrichters bei der Ausstellung von Durchsuchungsbeschlüssen. So bezeichneten die Richter im Oktober 2006 die Durchsuchung einer Aachener Anwaltskanzlei wegen zweier Bußgeldbescheide über je 15 Euro als "grob unverhältnismäßig und willkürlich". In einem anderen Fall hatte das Gericht "erhebliche Zweifel an der eigenständigen richterlichen Prüfung der Durchsuchungsvoraussetzungen".
Glaubt man den Ausführungen vieler Strafverteidiger ist eine solche eigenständige Prüfung die Ausnahme. "Der Richtervorbehalt läuft ins Leere, denn in der Regel legt der ermittelnde Staatsanwalt dem Richter den Durchsuchungsbeschluss einschließlich Begründung bereits samt Briefkopf des zuständigen Gerichts vor", sagt Pro Justitia-Chef Keller. Der Richter müsse nurmehr unterschreiben.
Im Schnitt wird 24 Minuten geprüft
Gerade einmal 24 Minuten pro Fall betrug der durchschnittliche Zeitaufwand eines deutschen Ermittlungsrichters laut einer Personalbedarfsberechnung im Auftrag der Justizministerkonferenz zu Beginn des Jahrzehnts.
"Da der Ermittlungsrichter jedoch auch für die Telefonüberwachung und andere Bereiche mit Richtervorbehalt zuständig ist, kann der Arbeitsaufwand pro Hausdurchsuchung abweichen", heißt es beim für die Untersuchung federführenden baden-württembergischen Justizministerium. Für Anwalt Keller ist dennoch klar: "Eine echte Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchungsanordnung ist bei der derzeitigen Arbeitsbelastung vieler Ermittlungsrichter kaum möglich."
Eine Studie der Uni Bielefeld, die vor einigen Jahren den Richtervorbehalt bei der Telefonüberwachung untersuchte, gibt ihm Recht. Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass die Richter die Überwachungsanträge der Staatsanwälte meist kritiklos übernehmen.
"Ermittlungsrichter zur Rechenschaft ziehen"
Eine gerade gestartete Untersuchung am Max-Planck-Institut in Freiburg soll nun den Richtervorbehalt bei Hausdurchsuchungen näher beleuchten. Der Leiter der Studie, Hans-Jörg Albrecht, geht davon aus, dass es auch bei der Genehmigungspraxis von Hausdurchsuchungen "ähnliche Probleme wie bei der Telefonüberwachung gibt".
"Die Position des Ermittlungsrichters ist, was die Personalausstattung betrifft, sehr schwach besetzt", sagt Albrecht. Die Fälle, in denen die Polizei zu Unrecht von Gefahr im Verzug ausgeht und Wohnungen ohne Gerichtsbeschluss durchsucht, dürften nach Ansicht des Forschers in den vergangenen Jahren als Folge der Urteile des Bundesverfassungsgerichts dagegen zurückgegangen sein.
Damit die Unverletzbarkeit der Wohnung nicht über den Umweg laxer Durchsuchungsbeschlüsse ausgehebelt wird, fordert Pro Justitia, vor allem die Zahl der Ermittlungsrichter aufzustocken. Strafverteidiger Vetter will zudem, dass "Ermittlungsrichter ähnlich wie in den USA bei Fehlentscheidungen auch zur Rechenschaft gezogen werden können".
Bei den von SPIEGEL ONLINE befragten Landesjustizministerien sieht man jedoch keinen Spielraum für zusätzliche Richterstellen. "Statt einer höheren Zahl von Ermittlungsrichtern ist vielmehr eine stärkere Sensibilisierung der Richter und Staatsanwälte zur Lösung des Problems nötig", sagt etwa Wilfried Krames, Sprecher des bayerischen Justizministeriums.