Besitzbürger in der Krise Gebt ab, bevor Euch genommen wird

Blockupy-Demonstration in Frankfurt am 18. März 2015
Foto: Thomas Lohnes/ Getty Images
Helmut Däuble, Jahrgang 1961, lehrt als Akademischer Oberrat Politikwissenschaften und Politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.
Gegenwärtig erleben wir eine europäische Krise der besonderen Art. Während sich vor unserer aller Augen in Griechenland ein ökonomisches und soziales Drama mit offenem Ende abspielt, das seinem Höhepunkt offensichtlich erst noch zustrebt, durchleiden die vermögenden Europäer eine ganz andere Misere: Sie werden gequält von dem Hoffentlich-merkt-niemand-um-wie-viel-reicher-wir-geworden-sind-Martyrium.
Haben Krisen in aller Regel die unschöne Eigenschaft, dass sie Vermögen vernichten, sei das über Kriege, über anhaltende und massive Wirtschaftseinbrüche oder über sonstige Katastrophen, so scheint die jüngste sich nun auch schon über viele Jahre hinziehende Krise - die Insolvenz von Lehman Brothers war immerhin schon im September 2008 - sich zu einem Freudenfest für wohlhabendere Schichten in ganz Europa und insbesondere in Deutschland zu entwickeln. So erleben wir zur Zeit die Herausbildung eines neuen Paradigmas: Gerade Krisen produzieren immensen neuen Reichtum.
Ein außerordentlicher Schneeberg
Konnten wir beispielsweise miterleben, wie sich der Börsenindex DAX, der die 30 größten börsennotierten deutschen Firmen umfasst, zu Anfang der Krise von über 8000 Punkten sehr schnell mehr als halbierte und damit die Grundregel zu bestätigen schien, dass Wirtschaftskrisen Vermögenswerte wie Schnee in der Sonne wegschmelzen lassen, so ist derselbe Leitindex danach von seinem Tiefpunkt bei unter 4000 Punkten im März 2009 exakt sechs Jahre später auf über gegenwärtig 12.000 Punkte angestiegen. Oder anders gesagt, er hat sich seit der Lehman-Pleite in etwa verdreifacht. Ein außerordentlicher Schneeberg.
Diese Zahlen sind allerdings mehr als nur reine Zahlen. Sie bedeuten bares Geld. Es sind nicht nur "Punkte", sondern leicht zu liquidierende Vermögenswerte, die sich darin widerspiegeln. Wenn man nun bedenkt, dass in der Bundesrepublik beispielsweise nur sieben Prozent der Bevölkerung direkte Aktionäre sind, das Gros der Aktien allerdings beim wohlhabendsten Zwanzigstel liegt und die untersten 50 Prozent praktisch keinerlei Aktien ihr Eigen nennen, dann weiß man, dass die Profiteure der aktuellen Krise gerade dieser kleine Teil an besonders begüterten Shareholdern sind. Dadurch, dass sehr Reiche den Großteil der Besitztümer direkt oder indirekt in Form von Firmenanteilen halten, ist das Vermögen gerade der obersten Schicht der Bevölkerung im Verlauf dieser Krise überproportional angewachsen.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Kurs der Automobilfirma BMW hat sich seit der Lehman-Pleite von unter 20 auf über 120 Euro und damit zu einer Marktkapitalisierung beziehungsweise einem Firmenwert von annähernd 80 Milliarden Euro vervielfacht. Entsprechend hat sich der nicht geringfügige Anteil, den die Familie Quandt an BMW hält, mitentwickelt und das Familienvermögen damit rapide um zahlreiche Milliarden Euro vergrößert. Was sich an dieser Dynastie beobachten lässt, findet man ähnlich auch bei den "kleineren Reichen".
Legal ist nicht gleich legitim
Lassen wir die Gründe dieses exzeptionellen Aktienbooms und der rapiden Aufwertung von Sachwerten einmal außer Acht - Geldschwemme und Niedrigzinspolitik der EZB, ein daraus resultierender Anlagenotstand in Verbindung mit einer immensen Exportstärke, welche durch die Euroschwäche nur befeuert wird - und schauen nur auf das vorläufige Ergebnis, dann lässt sich feststellen, dass die Vermögenspolarisierung unserer europäischen Gesellschaften in diesen wenigen Krisenjahren eine Dynamik erlebt hat, welche die Wohlhabenden selbst erschrecken lässt - jedenfalls die klügeren von ihnen. Sie wissen sehr wohl, dass diese Entwicklung gerade in demokratischen Gesellschaften - während der etwa in Griechenland die Zahl der Menschen, die sich keine Krankenversicherung mehr leisten können, in ähnlichem Maße angewachsen ist wie die Besitztümer der europäischen Superreichen - wahrgenommen und von der Zivilgesellschaft ausgiebig diskutiert wird.
Selbst wenn vonseiten der Habenden genügend Lobbyarbeit finanziert wird, um diese legalen Vermögenszuwächse auch als legitim erscheinen zu lassen, etwa als Ergebnis von unternehmerischem Weitblick in Zeiten zunehmender Globalisierung oder als gerechter Lohn für erfolgreiches Ausstechen von harter und weltweiter Konkurrenz, werden die europäischen Bürgergesellschaften diese wachsende Ungleichheit nicht mehr lange dulden. In Zeiten, in denen die Flut noch alle Boote anhob und alle Gesellschaftsschichten sich in einer Win-Win-Situation wähnten, mag dies anders gewesen sein. Aber in Zeiten, in denen die Verlierer und die Gewinner sich so klar herausschälen und erfassen lassen, wird auch in der Bundesrepublik - ebenso wie in anderen europäischen Ländern - das Thema Vermögensungleichheit zunehmend in den öffentlichen Fokus geraten. Die Piketty-Debatte ist da sicher nur ein Anfang.
Auch wenn das Potential des Aufbegehrens gerade in Deutschland in Zeiten des Neo-Biedermeiers eher begrenzt und Revolten bei uns eher Jahrhundertereignisse sind, sollte man sich in diesem Fall nicht in falscher Sicherheit wiegen. Spätestens wenn die Krise sich auch ökonomisch bis nach Deutschland durchfrisst, werden die offen zu Tage liegenden Ungleichheitsverteilungen auch den deutschen Michel empören. Ob das dann in Richtung der spanischen Podemos-Bewegung geht oder es zu einer Stärkung des Pegida-AfD-Rechtspopulismus kommt, ist noch unklar auszumachen.
Darauf zu hoffen, dass Vermögende in wohlverstandenem Eigeninteresse bereit sein könnten, auf Teile ihres Besitzes zugunsten des Staates zu verzichten, also zugunsten von uns allen, ist sicherlich naiv. Hier wäre es wünschenswert, dass wir Bürgerinnen und Bürger zusammen mit ein paar klugen und vernunftbegabten Politikern das Heft des Handelns in die Hand nehmen und den Vermögenden dabei nachdrücklich behilflich sind, gemeinwohlorientierte Angelegenheiten wie Bildungsaufgaben und Maßnahmen zur Erhaltung der Infrastruktur finanziell in wesentlich höherem Maße zu unterstützen, bevor es zu massiven Ausschreitungen auf der Straße kommt. Frankfurt dieser Tage könnte da nur ein Anfang gewesen sein. Eine gemäßigte, aber von allen erhobene Vermögens- und Erbschaftssteuer sowie eine europäische Finanztransaktionssteuer wären sicher ein guter Anfang.
Die Ehre der Bourgeoisie
Dabei geht es weder um die Abschaffung des Kapitalismus noch darum, Vermögende in Europa an den Pranger zu stellen und abzuzocken, aber es geht darum, dass demokratische Gesellschaften eine Verpflichtung haben, Steuern so zu erheben, dass sie zum einen die notwendigen Staatsausgaben decken sowie gegebenenfalls auch Staatsschulden wieder abbauen können und zum anderen dass sie gesellschaftlich auch mitgetragen werden. Und gerade diese Legitimation ist in den vergangenen Jahren stark ins Wanken geraten.
Einem Besitzbürger ist es nicht zu wünschen, dass er sich als "Krisengewinnler" verbergen muss. Solange er in ausreichendem Maße Steuern zahlt, muss es ihm auch möglich sein, nicht nur als betuchter und auch in der Krise erfolgreicher Bourgeois, sondern auch als ehrenwerter und engagierter Citoyen aufzutreten. Es geht also nicht um Reichen-Bashing, sondern darum, dass unsere Demokratie Wege findet, wie die zunehmenden Ungleichheiten begrenzt oder gar wieder abgebaut werden. An den in allen gesellschaftlichen Zirkeln und politischen Kreisen zu führenden Debatten über eine Vermögens- und Erbschaftssteuer führt kein Weg mehr vorbei.
Diese Krise der Gutsituierten sollten wir leichter lösen können als alle anderen. Doch scheinen wir alle zu wenig Zivilcourage zu haben, um das einzufordern. Vielleicht weil wir, die Mittelschicht, ja auch ein bisschen von der Krise profitiert haben?