S.P.O.N. - Im Zweifel links Kennen Sie Kohl?

Altkanzler Kohl: Einer, der Grenzen eingerissen hat
Foto: Michael Probst/ APEs steht nicht gut um Helmut Kohl. Er ist alt und krank. Der SPIEGEL beschreibt Kohls Haus in der aktuellen Titelgeschichte als verschlossene Burg und seine Frau als eifersüchtige Torhüterin. Ein Vertrauter von früher appelliert ausgerechnet im TV-Sender RTL an alte Freunde, Kohl "zu befreien". Auch das ist nicht gerade ein gutes Zeichen.
Dreißig Jahre ist es her, dass Helmut Kohl Kanzler wurde. Der große Uhrmacher gibt niemandem einen Dispens. Aber hier beobachten wir ein seltenes Schauspiel: Ein Mann geht bei lebendigem Leib in die Geschichte ein. Zum Schicksal historischer Figuren gehört der Streit um das politische Erbe, die Umdeutung der Vergangenheit, die Instrumentalisierung für jeglichen Zweck. So ist das, wenn Gegenwart zu Geschichte wird. Aber ein solcher Prozess der Historisierung vollzieht sich zumeist nach dem Tod - zum Glück. Helmut Kohl widerfährt das zu seinen Lebzeiten. Man gönnt es ihm nicht.
Dabei hatten die Intellektuellen in den Städten vor Vergnügen gegluckst, als der dicke Pfälzer sich damals in Bonn breit machte. Gibt es einen Politiker, der mit mehr Spott und Häme übergossen wurde als Helmut Kohl? Ja, darüber hinaus: Franz Josef Strauß wurde gefürchtet, Helmut Kohl wurde verachtet. Die Willkommenstexte, die nach dem 1. Oktober 1982 über Kohl geschrieben wurden, zeigten, dass die Intellektuellen viel Humor hatten - aber keine Ahnung von Politik.
Kohl hat uns gelehrt, dass Intelligenz nichts mit Intellektualismus zu tun hat
Zum Beispiel Hellmuth Karaseks SPIEGEL-Artikel "Der sprachlose Schwätzer" . Es geht um Kohls Sprache, nach Karaseks Maßstäben eher ein Gestammel. Karasek verspottet Kohls Satz: "In Hölderlin war ich gut" und stellt sich vor, was der Neu-Kanzler aus Goethes "Über allen Gipfeln ist Ruh" gemacht hätte: "Wenn wir uns nun auf dem Felde der Meteorologie in die höheren Berglagen begeben, so ist dort ein vollkommenes Nichtstun, wie ich offen sagen darf, zur Anwendung gelangt."
Lustiger als in diesem Artikel ist nie über einen neuen Kanzler geschrieben worden. Und bösartiger auch nicht. Aber kein Journalist würde heute in solchen Worten einen neuen Kanzler empfangen. Weil Kohl uns gelehrt hat, dass Intelligenz nichts mit Intellektualismus zu tun hat und der Erfolg in der Politik nicht den glänzenden Rednern zukommt. Kohl ist der bisher erfolgreichste deutsche Bundeskanzler - gemessen am einzig gültigen Maßstab, nämlich der Dauer seiner Amtszeit. Welchen sonst sollte es geben? Es gehört zum Wesen der Politik, den Maßstab ihres Erfolgs nur in sich selbst zu finden.
Die Erinnerung an Kohl steht für eine Politik der Integration
Aber gerade den Linken könnte noch ein anderer Maßstab einfallen, an dem Kohls Größe zu messen wäre: Die Erinnerung an Kohl steht für eine Politik der Integration, in Europa, in Deutschland. Es ist ein Paradox, dass ausgerechnet der Mann, den die Linken als "Birne" verspotteten, heute zur Leitfigur eines linken Traums taugt - er gilt als einer, der Grenzen eingerissen hat.
Es gehört zur Historisierung, dass Helden einen Kopf kürzer gemacht werden. Umso besser, wenn sie dann immer noch groß sind. Das trifft für Kohl zu. Am Anfang der Geschichtsschreibung steht die Frage: "Was war?" Aber an ihrem Ende steht die Frage: "Was wäre gewesen, wenn...?" Was also wäre gewesen, wenn ein anderer als Kohl Kanzler gewesen wäre, in jenen Jahren als Deutschland und Europa geeint wurden? Man kann sagen, es wäre alles ebenso gekommen. Weil es da gar keinen Mantel der Geschichte gab, dessen Zipfel es zu greifen galt, sondern nur das Räderwerk einer historischen Mechanik.
Für Deutschland stimmt das. Für Europa ist es unwahrscheinlich.
Man wird es in den Festreden auf den CDU-Veranstaltungen der kommenden Tage nicht so deutlich sagen, aber natürlich war die deutsche Einheit nicht Kohls Werk. Der britische Historiker David Pryce-Jones hat schon vor Jahren geschrieben: "Bis weit in das Jahr 1990 hinein war den westdeutschen Außenpolitikern nicht klar, dass sich ein historischer Moment anbahnte. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass sie alle schlafwandelnd in die Wiedervereinigung hineintaumelten." Niemand sah kommen, was der "imperial overstretch" der Sowjetunion da ausgelöst hatte.
Aber Kohl hat keinen Fehler gemacht. Das ist schon viel. Er hat der Geschichtsmaschine keinen Sand ins Getriebe gestreut. Und darauf wäre ja in Wahrheit die "eine Nation, zwei Staaten"-Lehre der linken Kritiker hinausgelaufen.
Kohl hat mehr getan als nur keine Fehler zu machen
Was Europa angeht, man kann das gar nicht oft genug sagen, hat Kohl mehr getan als nur keine Fehler zu machen. Sein Biograf Hans-Peter Schwarz tut ihm Unrecht, wenn er Kohl als "Verführten" sieht und "Mitterand und dessen nationalegoistische Kollegen aus den Weichwährungsländern" als finstere Euro-Gesellen beschreibt, die mit geradezu welscher Schläue den deutschen Michel übervorteilt hätten: "Sie haben den im innersten Kern idealistischen Europäer Helmut Kohl zum langfristigen Schaden aller Beteiligten dazu überredet, ausgerechnet das Geldwesen der Völker Europas zum Gegenstand eines verfrühten Großexeperiments zu machen, das sich auf lange Sicht eigentlich nur als sehr riskant herausstellen konnte."
Das bleibt noch abzuwarten.
In der Tat war Kohl Europa-Idealist. Und wenn Gott eine Adresse hätte, müsste man ihm Dank dafür schicken, dass einer wie Kohl seinerzeit im Kanzleramt saß, der die Zeichen der Zeit lesen konnte - und nicht eine Integrations-Analphabetin wie Angela Merkel. Kohl kommt in einer kuriosen Wendung der deutschen Geschichte als Bismarcks gemütlicher Wiedergänger daher, der die Einheit des Landes und die des Kontinents nicht mit "Eisen und Blut" schuf sondern mit den Mitteln der Moderne: mit Geld, Geduld und guter Laune.
Vor allem Geld natürlich. Dass in der Politik mit Bimbes alles geht, das hatte er ja von Adenauer gelernt. In den sechziger Jahren schimpfte Kohl noch, es sei "skandalös", wie die Union sich finanziere. Aber wir wissen ja, dass er das später gar nicht skandalös fand, sondern praktisch. Und was in der CDU geht, geht auch in Deutschland und in Europa. Die Summen waren andere. Das Prinzip dasselbe.
Kohl hat die deutsche Einheit in Mark bezahlt und die europäische Einigung in Euro. Und alles auf Kredit. Na klar! "L'intendance suivra", hat de Gaulle gesagt - der Tross folgt der Armee. Anders kann man sich solche Anschaffungen gar nicht leisten. Darin liegt natürlich ein spielerischer Größenwahn. Aber den braucht man nun einmal, wenn man die großen Dinge anfassen will. Und das ist gelungen.
Also: Glückwunsch, Altkanzler!