Hessische SPD-Abweichler "Unvorstellbarer Druck und ein großer Gewissenskonflikt"
Wiesbaden - Ihre Erklärung kam überraschend und bedeutet für die hessische SPD ein Fiasko. Die vier hessischen SPD-Landtagsabgeordneten Jürgen Walter, Dagmar Metzger, Silke Tesch und Carmen Everts haben am Montag in Wiesbaden erklärt, SPD-Chefin Andrea Ypsilanti am Dienstag nicht zur Ministerpräsidentin wählen zu wollen. Ihrer gemeinsamen Erklärung fügten sie persönliche Statements an. Die Begründungen der Genossen im Wortlaut.
Walter sorgte sich um Zehntausende Arbeitsplätze
"Ich habe immer wieder den Kurs der hessischen SPD kritisiert, parallel dazu aber auch immer wieder versucht, konstruktiv mitzuarbeiten. Deshalb wurde ich oft als wankelmütig und als inkonsequent kritisiert. Zurecht.
Ich war in der Tat in den letzten acht Monaten permanent hin- und hergerissen zwischen der Loyalität zu meiner Partei und meinen Freunden in dieser Partei auf der einen Seite, und meiner tiefen Überzeugung, dass eine von den Linken tolerierte Minderheitsregierung dem Land Hessen, aber auch meiner Partei, schaden würde. Ich weiß, dass diese innere Zerrissenheit mein Bild in der Öffentlichkeit bestimmt hat.
Die letzten acht Monate, vor allem aber die letzten Tage, waren die mit Abstand schwierigsten meines bisherigen politischen Lebens.
"Ich bin vollständig mit mir im Reinen"
Aus heutiger Sicht muss ich mir eingestehen, es war ein großer Fehler, dass ich mich nicht bereits im März neben Dagmar Metzger gestellt und sie unterstützt habe. Wissen sie, ich war wie gehemmt durch das Wissen, dass man mir dann sofort unterstellen würde, dass ich das nur tun würde, um Andrea Ypsilanti zu schaden, weil ich doch in Rothenburg bei der Spitzenkandidatur gegen sie verloren habe.
Heute stehe ich am Ende dieses langen und unglaublich schwierigen Prozesses. Am Samstag habe ich auf unserem Parteitag deutlich gemacht, dass ich nicht nur Sorge vor dem Einfluss der Linkspartei habe, sondern dass ich durch die rot-rot-grüne Regierungspolitik Zehntausende Arbeitsplätze in unserem Land gefährdet sehe, und ich habe auch deutlich gemacht, dass diese Stromlinienförmigkeit der hessischen SPD nicht der Tradition unserer Partei entspricht.
Hinzu kam, dass mich der Mut von Carmen Everts und Silke Tesch bei meiner Entscheidung bestärkt hat. Ich kann diesen Weg meiner Partei in Hessen nicht gehen. Ich kann aber sagen, dass ich heute vollständig mit mir im Reinen bin. Ich weiß, dass meine Entscheidung bedeutet: Ich kann dieser Regierung meine Zustimmung nicht geben."
Metzger fühlt sich bestätigt
"Ich kann meine Stellungnahme ganz kurz machen. Natürlich bin ich über die jetzt getroffene Entscheidung meiner drei Fraktionskolleginnen und -kollegen sehr froh. Ich fühle mich im Grunde genommen dadurch in meiner Entscheidung aus dem März, die Regierungsbildung mit Hilfe der Linkspartei zu verhindern, bestätigt.
Sie belegt, dass die Zweifel und Bedenken hinsichtlich einer solchen Regierungsbildung, die ich damals öffentlich und in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder geäußert habe, eben doch von sehr viel mehr Menschen in der SPD geteilt werden, als dies die Partei- und Fraktionsführung zur Kenntnis nehmen wollte.
Und ich bin sehr froh, dass Carmen Everts, Silke Tesch und Jürgen Walter denselben Weg gehen wie ich - also öffentlich - und mit der Bereitschaft, alle Konsequenzen zu tragen und nicht heimlich in der Wahlkabine. Niemand weiß besser als ich, wie viel Mut hierzu gehört.
Wir leben in einer Demokratie mit einem freien Abgeordnetenmandat.
Dazu gehört, dass diejenigen, die unserer Auffassungen und Entscheidungen nicht teilen können, sie doch respektieren sollten.
Natürlich stehen wir in der hessischen SPD jetzt vor einem schwierigen Weg. Wir haben eine verantwortungsvolle und dem Willen des überwiegenden Teils der Bürgerinnen und Bürger Hessens dienende Entscheidung getroffen, davon bin ich fest überzeugt.
Verantwortlich sind jetzt die Teile der Fraktion und der Parteiführung, die sich entschlossen hatten, das zentrale Wahlversprechen unserer Partei zu brechen. Und außerdem ist es ihnen nicht gelungen, die Öffentlichkeit und uns als im wirtschaftspolitisch orientierten Teil der Fraktion von der Notwendigkeit und Richtigkeit dieses Kurses zu überzeugen. Deshalb müssen wir so handeln."
Tesch wirft der Fraktionsführung Ignoranz vor
"Ich habe mich in den letzten Wochen in einem extremen Gewissenskonflikt befunden. Auf der einen Seite stand die Ohnmacht, und auf der anderen Seite der Wille, meinen Überzeugungen treu zu bleiben. Die Situation hat mich zunehmend psychisch und physisch stark belastet und sich bis zum Wochenende zugespitzt. Das gebrochene Wahlversprechen und das Zusammengehen mit der Linken allein wäre schon Grund genug gewesen, diese Regierung so nicht mitzutragen und sich neben Dagmar Metzger zu stellen. Ich bedaure, dass ich damals nicht schon so mutig war.
Hinzugekommen ist der Umgang in Fraktion und Partei in den vergangenen Wochen und Monaten. Ich habe regelmäßig in meiner Fraktion und in der Öffentlichkeit meine Bedenken und Zweifel geäußert und die Sorge der Mitglieder und der Bevölkerung dargestellt. Diese Bedenken sind von der Fraktionsführung regelmäßig ignoriert und ausgeblendet worden. Ich habe auch mehrfach darauf hingewiesen, dass es in meinem Wahlkreis 'rumort' - genau mit diesem Wort. Mitglieder meines Ortsvereins und meines Wahlkreises haben daraufhin die Partei verlassen. Die, die kurz davor standen, habe ich mit vielen mühevollen Gesprächen gebeten, an Bord zu bleiben und den Andersdenkenden nicht das Feld zu überlassen.
Die Entscheidung, entweder eine Tolerierung mit der Linken einzugehen und das Abdriften der Hessen-SPD an den äußersten linken Rand zu akzeptieren, eine schädliche Wirtschaftspolitik in schwierigen Zeiten zu unterstützen oder meine Überzeugungen und mein demokratisches Selbstverständnis zu behalten, führte zu diesem Entschluss. Dem Koalitionsvertrag konnte ich am Samstag nicht zustimmen, da ich ihn in großen Teilen als eine Belastung für Hessen sehe. Weiterhin verstärkte sich mein Eindruck, dass die Wahrnehmung der SPD-Fraktion zunehmend konträr zu dem lag, was die Menschen in Hessen und gerade in meinem Wahlkreis denken und empfinden.
Mehrfach wurde ich darauf angesprochen, dass auch ich mein Wort brechen würde, wenn ich diese Regierung unterstütze. Bis gestern haben uns alle unzählige Aufforderungen aus der Partei und der Bevölkerung erreicht, diesen Weg zu verhindern. Meinem Gewissen und diesen Menschen fühle ich mich verpflichtet. Letztlich habe ich mich für meine Überzeugungen und die Glaubwürdigkeit in der Politik entschieden. Eine negative geheime Abstimmung kam für mich nie in Frage. Ich bin nicht jemand, der verdeckt agiert und andere ins offene Messer laufenlässt. Ich muss heute diesen Weg gehen."
Everts erlebte "unvorstellbaren Druck"
"Ich habe in den vergangenen Monaten, wie andere meiner Kolleginnen und Kollegen auch, einen unvorstellbaren Druck erlebt und einen großen Gewissenskonflikt mit mir ausgetragen. Dieser hat in den letzten Tagen mit dem konkreten Blick auf den Wahltermin eine enorme Zuspitzung mit sich gebracht. Meine tiefen Bedenken gegen eine Linkstolerierung habe ich von Anfang an in meiner Fraktion und Partei ausgesprochen, gerade auch weil ich mich in meiner Doktorarbeit mit dem Wesen des politischen Extremismus und mit der PDS auseinandergesetzt habe.
Die Linke ist eine in Teilen linksextreme Partei, sie hat ein gespaltenes bis ablehnendes Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und ein problematisches Gesellschafts- und Geschichtsverständnis. Und ihr Ziel ist es, der Sozialdemokratie zu schaden.
Ich war und bin immer noch zutiefst zerrissen zwischen diesen schwerwiegenden Bedenken und meiner Loyalität zu meiner Fraktion und meiner Verbundenheit zur SPD. Sie können mir glauben, dass mir ein solcher Schritt mit meinem Engagement für die Partei und mit nun fast 20 Jahren Mitgliedschaft außerordentlich schwerfällt. Trotzdem: Er ist für mich ohne Alternative und ich bin mir seiner Tragweite und der Belastung für meine Partei bewusst.
Ich hatte für mich persönlich auch immer wieder die Hoffnung, ich fände einen für mich erträglichen Kompromiss und ich könnte meine persönliche Gewissensentscheidung in der Mehrheitsfindung der Gesamtpartei aufgehen lassen. Durch die zurückliegenden Tage mit dem letztendlich entscheidenden Parteitag am Samstag und mit meinem ganz persönlichen eigenen Gang in die Wahlkabine ist mir eines mehr als bewusst geworden. Ich muss dies alleine mit meinem Gewissen ausmachen.
"Ich kann das nicht"
Und dabei geht es für mich um den Respekt vor meinen Grundüberzeugungen und meinem Verständnis von Demokratie und Verantwortung. Es geht um den Willen der Wählerinnen und Wähler, die die rot-grüne Minderheitenregierung nicht gewählt haben und diese zutiefst ablehnen, wie die Umfragen und unzählige Rückmeldungen zeigen. Es geht um eine in der Mitte der Gesellschaft verankerte, selbstbewusste Sozialdemokratie, die sich von der Linkspartei deutlich abgrenzt. Und es geht in allererster Linie auch um die Zukunft dieses Landes. Deshalb ist für mich klar, dass ich einer solchen Regierungsbildung meine Stimme nicht geben kann.
Und ich will offen sagen, dass mich die Spekulationen der vergangenen Woche, es könnte irgendeiner heimlich sein Nein abgeben, zunehmend geärgert haben. Was wäre dies eigentlich für ein Zeugnis für unsere parlamentarische Demokratie und für die Gewissensfreiheit der Abgeordneten? Demokratie heißt, sich auch anders positionieren zu können, und dies offen und mit aller Konsequenz.
Hessen hat eine gerechtere, eine sozialere, eine wirtschaftlich und ökologisch zukunftsfähige Politik verdient. Der Auftrag meiner Wählerinnen und Wähler ist die Ablösung der Regierung Koch und eine andere sozialdemokratische Politik für Hessen. Aber nicht um den Preis der Beteiligung der Linkspartei, nicht um den Preis meiner persönlichen Integrität und Grundwerte und nicht um den Preis der Wahrhaftigkeit in der Politik. Ich kann das nicht."
hen/ddp