
Niedrige Wahlbeteiligung Schlecht getarnter Unterschichtenhass


Wählerinnen auf dem Weg zum Wahllokal (Archivbild)
Foto: Roland Weihrauch / picture alliance/dpaNiemand wird gerade so inbrünstig gehasst und verachtet wie Nichtwähler, nicht mal SUV-Fahrer oder Veganer. Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am vergangenen Wochenende waren sie mit etwa 45 Prozent die politisch stärkste Kraft geworden, stärker als die CDU, die auf die meisten abgegebenen Stimmen kam. Fast jeder Zweite war am vergangenen Sonntag nicht zur Wahlurne gegangen, so viele wie nie zuvor. Und es war gleich klar, wer daran schuld war, die Bürger nämlich, die sich geweigert haben, ihre Stimme abzugeben. Selbstgefällig seien sie, dummdreist, dekadent, hieß es, (z.B. hier).
Deutschlands Fernsehgott, Günther Jauch, kanzelte die Menschen in NRW aus dem Maischberger-Studio ab: »In der Ukraine lechzen die Leute nach Demokratie. Die setzen dafür ihr Leben ein! Und bei uns bleiben die Leute zu Hause und hauen ihr Grundrecht in die Tonne.« Da wisst ihr Bescheid, ihr faulen Loser aus Gelsenkirchen.
Man könnte einwenden, dass es nicht besonders redlich oder fair ist, den Überlebenskampf in einem Krieg, in dem Bomben fallen, Nachbarn verschleppt, vergewaltigt und ermordet werden, mit einer Landtagswahl im friedlichen Deutschland zu vergleichen, bei der es darum geht, ob der eine mittelalte katholische Mann mit Bart und Brille Ministerpräsident wird oder der andere mittelalte katholische Mann mit Bart und Brille, aber vielleicht sind das Feinheiten.
Als in der Ukraine noch keine Bomben fielen, als die Verhältnisse also eher denen in Gelsenkirchen oder Dortmund ähnelten, gingen dort übrigens auch nicht viel mehr Menschen zur Wahl als letzten Sonntag in NRW. Bei der Ukraine-Präsidentenwahl 2019 – die Wolodymyr Selenskyj gewann – beteiligten sich 63 Prozent beim ersten Wahlgang, beim zweiten Wahlgang waren es 61 Prozent. 39 Prozent gingen nicht zur Wahl. Das ist gar nicht so weit entfernt von den 45 Prozent in NRW.
In NRW herrschten amerikanische Verhältnisse, klagte wiederum der Deutschlandfunk . Ich versuchte, mir Hendrik Wüst als Donald Trump vorzustellen, was mir mäßig gelang. Lustig aber, dass man aus Köln eher in die USA schaut als in den Nahen Osten. Ich sehe in NRW ja eher ostdeutsche Verhältnisse, was die niedrige Wahlbeteiligung angeht. Bei der ersten freien Wahl 1990 gingen noch 93,4 Prozent zur Abstimmung. Die Begeisterung für die repräsentative Demokratie nahm dann aber über die Jahre rapide ab, pegelte sich um 50 Prozent ein, in Sachsen-Anhalt sank sie 2006 bei der Landtagswahl auf 44 Prozent und stieg erst mit dem Aufkommen der AfD. War auch wieder nicht gut.
Nach jeder Wahl im Osten mit niedriger Wahlbeteiligung fand sich dann meist dieser oder jener Experte, der behauptete, dass die harten Ost-Erzieherinnen in den Kindergärten die zarten Kinderseelen so verhunzt hätten, dass aus ihnen nur Demokratiehasser werden konnten. Oder so. Jetzt fehlt eigentlich nur noch jemand, der sagt, dass die vielen zu Hause bleibenden Mütter in NRW an der niedrigen Wahlbeteiligung schuld sind.
Offenbar kann sich kaum einer vorstellen, dass es Leute gibt, denen Politik nicht wichtig ist oder die sich von dem Wahlkampf nicht angesprochen fühlten. Die repräsentative Demokratie funktioniert doch so: Wenn man achtzig Jahre alt wird, kann man in seinem Bürgerleben vielleicht fünfzehnmal abstimmen, welche Partei in den Bundestag kommt, vielleicht noch genauso häufig darüber, welche Partei in den Landtag kommt. Die Chancen, dass man selbst Abgeordneter, Minister oder gar Bundeskanzler wird, sind äußerst gering. Sie sind noch geringer, wenn man in Armut und/oder in nicht akademischen, migrantischen Haushalten aufwächst.
Die größte Mehrheit der Menschen wird nie darüber entscheiden, ob die Steuern erhöht oder gesenkt werden, wie viel ein Hartz-IV-Empfänger bekommt oder ob deutsche Waffen ins Ausland geliefert werden oder nicht. Man delegiert diese Entscheidungen an andere und hofft, dass es irgendwie gut geht. Die meisten Menschen haben sich mit dieser Form der Repräsentanz arrangiert.
Und es gehört zur Freiheit eines Bürgers dazu, nicht wählen zu müssen. Es gibt ein Wahlrecht, keine Wahlpflicht oder gar Wahlzwang. Das ist eben der Unterschied zu einer Scheindemokratie oder einem totalitären Staat.
Die Angriffe auf die Nichtwähler sind im Prinzip schlecht verhüllter Unterschichtenhass, und sie gehen an der eigentlichen Frage vorbei: Warum ist es einer großen Zahl von Menschen offenbar nicht wichtig genug, ihre Stimme abzugeben? Warum ist die Vorstellung so abwegig, dass sie sich von niemandem vertreten fühlen? Und dass viele von ihnen, anders als bei der letzten Wahl, offenbar keine Motivation spürten, diesmal zu wählen. Das spürte vor allem die SPD, 300.000 ihrer Anhänger blieben zu Hause.
Die meisten Nichtwähler sind arme Menschen, auch in NRW war die Wahlbeteiligung in den verarmten Städten wie Gelsenkirchen oder Duisburg am niedrigsten. Laut dem Einkommensatlas liegt das Pro-Kopf-Einkommen pro Jahr in Gelsenkirchen bei 17.015 Euro, in Duisburg sind es 17.741 Euro.
Der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge sagt (noch mal) , dass bestimmte Bevölkerungsschichten sich nicht mehr repräsentiert fühlen. »Die sozial Benachteiligten haben das Gefühl, dass ihre Interessen nicht mehr vorkommen bei den Verantwortlichen, und das beantworten sie damit, dass sie nicht mehr zur Wahl gehen.« Butterwegge kandidierte vor ein paar Jahren für die Linke als Bundespräsident, seine Frau war jetzt in NRW Kandidatin der Linken. Er ist nicht komplett unparteiisch, und trotzdem ist seine Analyse nicht falsch.
Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit – von der ich unterstelle, dass sie arme Menschen mehr bewegt – fristet seit einiger Zeit ein Nischendasein, es ist kein Thema, mit dem man sich profilieren kann. Sozialpolitik wird höchstens so verstanden, nach dem Gießkannenprinzip Geld zu verteilen, wie beim Entlastungspaket. Andere Reformideen haben es schwer.
»Wir rennen gerade in ein massives Armutsproblem«, warnte Klaus Lederer, Kultursenator von Berlin, kürzlich angesichts der massiv steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten. Auf Twitter machen Menschen bereits mit dem Hashtag #Ichbinarmutsbetroffen auf ihre Situation aufmerksam.
Und gleichzeitig wirken die Parteien sozialpolitisch seltsam ideenlos. Höhere Steuern für diejenigen zu verlangen, die gut durch die Krise gekommen sind, und die gibt es ja, lehnt der FDP-Finanzminister ab. Die Grünen werden als Umweltpartei wahrgenommen, die Linke – Lederers Partei – liegt quasi in Trümmern.
Und die SPD? Es wirkt, als sei sie die Partei für doppelt verdienende Akademikerpaare mit Eigentumswohnung geworden – und außerdem ständig mit irgendeiner Vergangenheitsbewältigung befasst (früher Hartz IV, jetzt Russland). Man könnte einwenden, Scholz habe dafür gesorgt, dass der Mindestlohn kommt, doch das wird angesichts der hohen Kosten durch Inflation und Preissteigerungen zu wenig sein. »Wir haben zu viel über Waffenlieferungen und zu wenig über die steigenden Lebenshaltungskosten geredet«, sagte SPD-Chef Lars Klingbeil nach der NRW-Wahl. Das ist immerhin eine Einsicht.