

Seehofer beendet Willkommenskultur Der Gekränkte schlägt zurück


Horst Seehofer, CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident
Foto: Peter Kneffel/ dpaNoch kein Thema, so erzählt es Horst Seehofer, habe ihm so zugesetzt wie die Flüchtlingskrise. So sehr umgetrieben habe es ihn manchmal, dass er schon frühmorgens um drei eine SMS an die Kanzlerin geschrieben habe, in der stand, wie furchtbar und frustrierend er das alles fände. Die Kanzlerin, ergänzt Seehofer, habe dann etwa um sechs Uhr geantwortet.
Weshalb diese Erwähnung des zeitlichen Ablaufs? Diese kleine Episode aus der aktuellen ARD-Dokumentation über den CSU-Chef und bayerischen Ministerpräsidenten eröffnet einen Blick in den Abgrund der Seele Seehofers: Ihm reicht es nicht aus, sich als der besorgteste Besorgte darzustellen, als frühesten aller Frühaufsteher. Nein, es muss dann auch noch eine Spitze gegen die Kanzlerin sein: Drei Stunden später erst antwortete ihm Angela Merkel. Soll heißen: Er sorgt sich volksnah ums Land - die weltfremde Kanzlerin träumt derweil in ihrem Elfenbeinturm.
Jedes Wort sitzt
Man kann Horst Seehofer viele Qualitäten absprechen, aber eine besitzt er gewiss: Präzision in der Wortwahl. Sei es eine gespielt spontane Missfallensäußerung über den Zustand der Koalition vor vorgeblich zufällig noch laufender Kamera ("Das können Sie alles senden!"), sei es die gezielte Herabwürdigung seines allzu forschen Nachfolgeaspiranten Markus Söder ("Schmutzeleien") - Seehofer weiß genau, wann welche Vokabel genau die Wirkung erzielt, die er erreichen will.
Und so kann man davon ausgehen, dass sich Horst Seehofer seine Wortwahl genau überlegt hat, als er der "Süddeutschen Zeitung" in Bezug auf die Fortführung der Grenzkontrollen an der bayerisch-österreichischen Grenze unverkennbar triumphierend mitteilte: "Das Ende der Willkommenskultur ist notariell besiegelt."
Die Aussage dieses Satzes ist zunächst einmal faktischer Unsinn. Tatsächlich hat kein Notar beurkundet, was Seehofer im Streit mit dem Bund über die Grenzkontrollen ausgehandelt hat. Der CSU-Chef lässt den Notar nur auftreten, um seine Interpretation deutlich zu machen: Das hier ist keine politische Verabredung, die unter anderen Umständen von einer anderen politischen Verabredung ersetzt werden kann. Sie ist vielmehr amtlicherseits für unumstößlich erklärt worden.
Kalte Absage an die Flüchtlingshelfer
Problematischer jedoch ist Seehofers Wortwahl an anderer Stelle: Was treibt den CSU-Chef, vom "Ende der Willkommenskultur" zu sprechen?
Das Wort "Willkommenskultur", im allgemeinen Sprachgebrauch erst seit dem Flüchtlingssommer 2015 vorhanden und im Dezember desselben Jahres in Österreich zum "Wort des Jahres" gewählt, ist bereits im März 2013 in einem Papier des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) definiert worden. In dessen "Abschlussbericht: 'Runder Tisch Aufnahmegesellschaft'" bezeichnet "Willkommenskultur" eine positive Haltung der Gesellschaft gegenüber Ankömmlingen: "Neu-Zuwandernde anhand attraktiver Rahmenbedingungen Willkommen heißen und anerkennend in die Gesellschaft aufnehmen. Willkommenskultur richtet sich an alle legalen Neu-Zuwandernden."
Medialer Höhepunkt der deutschen Willkommenskultur waren die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof, wo zahlreiche Bürger frisch angekommene Flüchtlinge mit Applaus begrüßten. Solche Szenen gibt es nicht mehr zu sehen - was es aber immer noch gibt, sind Tausende Helfer in Flüchtlingsheimen, Sozialarbeiter, Sprachlehrer, Ärzte und Beamte, die sich nach wie vor, amtlich und ehrenamtlich, wenn auch ohne große öffentliche Aufmerksamkeit, darum bemühen, den Flüchtlingen die Ankunft und Eingliederung zu ermöglichen.
Die Applaudierenden von München werden von Rechten mittlerweile als "Bahnhofsklatscher" diffamiert. Wenn der bayerische Ministerpräsident "das Ende der Willkommenskultur" ausruft, dann ist das eine ebenso kalte Absage an alle (übrigens auch an die zahlreichen bayerischen Bürger), die sich weiterhin um eine menschliche, zugewandte Behandlung der Flüchtlinge sorgen.
Anbiederung oder Verbitterung
Diese Willkommenskultur war Seehofer, der auch schon mal von der Abwehr der Zuwanderung ins deutsche Sozialsystem "bis zur letzten Patrone" gesprochen hat, anscheinend seit jeher zuwider. Nach seinem Verständnis muss man Kriegsflüchtlinge wohl zwar zähneknirschend dulden und irgendwie unterbringen. Aber freundliche Zugewandtheit ist dabei nicht vorgesehen, sogar schädlich: Die betrachten das sonst ja noch als Einladung.
Horst Seehofers Satz vom "Ende der Willkommenskultur" entstammt mithin der Gedankenwelt der Ausländerfeinde. Denn über die Zahl der Flüchtlinge, über die Politik der Bundesregierung, über Grenzkontrollen und Kontingente mag man demokratisch streiten. Aber wer, der nicht Ausländerfeind ist, würde einem Gast nicht grundsätzlich positiv begegnen wollen?
Entweder handelt es sich bei Seehofers Worten um einen traurigen Versuch, sich bei den zur AfD abgewanderten Wählern anzubiedern. Es ist zweifelhaft, ob er damit Erfolg haben wird: Die wählen wohl doch lieber das verlässlich rassistische Original als den inszenierten christsozialen Theaterdonner.
Oder Seehofer dachte beim "Ende der Willkommenskultur" gar nicht so sehr an die Wähler, sondern mehr an die Person, mit der dieser Begriff (mittlerweile zwar kontrafaktisch, aber immer noch) verbunden wird: Angela Merkel. Runde um Runde drehen seine Spielzeugeisenbahnen nachts in Seehofers Keller, denn er kann nicht schlafen, weil ihn die ständigen Zurückweisungen der Kanzlerin nicht ruhen lassen, weil keine Antwort kommt auf seine SMS, und wenn doch, dann spät, erst nach drei Stunden! Horst Seehofer, ein verbitterter Mann im Winter seiner Karriere, dessen politisches Handeln nur noch von der Rache für erlittene Kränkungen angetrieben wird.
Sei sie also politisch motiviert oder persönlich: Horst Seehofers Haltlosigkeit ist notariell besiegelt.