Im Newsroom von SPIEGEL ONLINE Wie aus der Katastrophe eine Nachricht wurde
14:50 Uhr:
Über die Fernsehschirme im Newsroom kommen Bilder, die einige zunächst für einen Kino-Trailer halten: Eine gigantisches Loch klafft im World Trade Center, Rauch quillt heraus, Flammen schlagen nach oben. Keiner kann fassen, was passiert ist, alle starren auf die Monitore. Wenige Minuten später steht die erste Meldung auf der Homepage, erst einmal ohne Bild, damit es schneller geht: "Flugzeug rast in das World Trade Center".
15:03 Uhr: Das zweite Flugzeug jagt in den Südtower, ein riesige Stichflamme schießt aus dem Gebäude, Trümmer regnen herab, Menschen rennen schreiend in Deckung.
15:05 Uhr: Der Traffic auf unserer Seite explodiert, innerhalb von Minuten hat SPIEGEL ONLINE dreimal so viele Seitenabrufe wie zu üblichen Spitzenzeiten.
15:10 Uhr: Krisen-Konferenz im Newsroom: Die Redaktion konzipiert ein Special. Noch ist nicht klar, wie es zu der Katastrophe kam. Wir vermuten einen Terrorangriff und verteilen die Themen, vergeben Aufgaben: Ein Redakteur beobachtet die eintreffenden Agenturnachrichten, ein anderer CNN. Andere schreiben Hintergrundstücke, recherchieren: Was ist das WTC? Wer arbeitet dort? Welche Terroranschläge gab es bisher? Wie gefährlich ist Kerosin? Kaum zehn Minuten nach der zweiten Explosion arbeitet die gesamte Redaktion am Thema.
15:15 Uhr: Bilder, Bilder, wir brauchen Bilder. Die Rechtsabteilung hilft bei den Verhandlungen über Video-Rechte. Es darf nichts kosten, unser Budget ist knapp. Schließlich bekommen wir Sequenzen. Auf die Seite stellen können wir sie dennoch nicht, die Server sind an der Kapazitätsgrenze.
15:20 Uhr: Die Server ächzen unter dem Traffic. Wir räumen die Seite leer, um die Datenmengen zu verringern: Keine Bilder mehr, keine Kästen, nur noch die wichtigsten Ressorts. Die Amerikaner, etwa cnn.com, machen es genauso. Die Technik versucht, zusätzliche Serverkapazität zu organisieren.
15:25 Uhr: Wir versuchen Kontakt zu unserem Korrespondenten in New York zu bekommen, Carsten Volkery. Auch zu Freunden gibt es kein Durchkommen. Das Telefonnetz ist zusammengebrochen, auf E-Mails kommt keine Antwort. Was wir nicht wissen: Volkery ist bereits unterwegs, von seiner Wohnung in Brooklyn nach Manhattan, mit der U-Bahn.
15:43 Uhr: Die Terror-Nachrichten hören nicht auf: Ein weiterer Passagier-Jet jagt ins Pentagon. Ist Los Angeles das nächste Ziel?
15:45 Uhr: Volkery verlässt die U-Bahn in Manhattan. Hier der Beginn seines Berichts, der später auf unsere Seite kommt: "Ich steige an der Station Park Place aus. Ein Ausgang ist abgesperrt. Polizisten empfangen uns oben, wollen uns weglenken. Die Bürgersteige sind gesäumt mit Menschen. Alle schauen nach oben, viele fotografieren: Schräg über uns steigt der Rauch aus den silbernen Türmen, wir sind nur wenige Blocks entfernt. Im Innern lodern die Flammen. "Ich war im World Financial Center nebenan", diktiert ein Mann zwei Reportern in den Block. "Man hat die Fenster bersten gespürt."
Bevor er weiterreden kann, grummelt es. Einer der beiden Türme fällt nach links. Alles rennt zurück runter in die U-Bahn-Station, einige springen über das Geländer. Auf einmal sind eine Menge FBI-Beamte da. "Bleiben Sie in der U-Bahn!", schreit jemand. Ein Mann mit einem Helm kommt herbeigerannt. Er geht in die Knie, der Helm fällt ihm vom Kopf. "Es ist eingestürzt, das World Trade Center ist gerade eingestürzt!", stößt er hervor. Er hat Schwierigkeiten zu atmen. Dichte weiße Staubwolken kommen durch die Eingänge. Die Luft wird undurchsichtig, einige der vielleicht hundert Flüchtenden pressen sich Tücher vor Mund und Nase."
16 Uhr: Dies wird ein langer Tag. Wir stellen einen Schichtplan auf. Normalerweise schließen wir die Redaktion um 21 Uhr, der Frühdienst kommt um 6 Uhr. Wir entscheiden: Bis auf weiteres wird die Redaktion Tag und Nacht besetzt sein.
16:15 Uhr: Die Technik signalisiert uns, dass wir bald zusätzliche Server bekommen. Zudem organisieren wir so genannte Mirror-Sites: befreundete Unternehmen, auf deren Server wir einen Teil des Traffics umleiten können. Die Zugriffe steigen weiter an, auf fast 200 PIs pro Sekunde - das Vierfache unserer normalen Spitzenlast.
In den nächsten 24 Stunden wird die Redaktion circa 100 Features auf die Seite bringen, dazu Hintergründe, Analysen, Interviews und immer wieder Augenzeugenberichte von den Straßen Manhattans. Am Mittwoch erzielen unsere Seiten zehn Millionen Abrufe, fünfmal so viel wie der bisherige Höhepunkt. Umgerechnet sind das zwischen 750.000 und einer Million Leser. Unsere Seiten bleiben stets erreichbar, die Leser danken es uns in vielen E-Mails.
Wir bekommen Anrufe und E-Mails aus anderen Redaktionen: Haltet durch, ihr seid die Besten! Frank Schirrmacher ist darunter, Herausgeber der "FAZ", und José Redondo-Vega, Chefredakteur des "Kress-Reports".