Integration "Mit 18 hatte ich mein türkisches Coming Out"
Berlin - Am Heinrichplatz schlägt das Herz von Berlin-Kreuzberg. Türkische und arabische Läden reihen sich aneinander. Tünya Özdemir, 30, hat hier ihren Modeladen.
Sie wurde in Deutschland geboren. Ihr Vater, ein "klassischer Gastarbeiter", wanderte 1966 ein, die Mutter Anfang der siebziger Jahre. Tünya Özdemir wuchs in Berlins Edelstadtteil Zehlendorf auf, im Souterrain einer Villa, in der sich die Eltern als Hausmeister ein kleines Zubrot verdienten. Sie lebten zu fünft auf 60 Quadratmetern, in der Bedienstetenwohnung neben dem Luftschutzbunker.
Sie erinnert sich an die "riesengroße, alte Backsteinvilla mit Rosengarten" und ältere Damen, für die sie als kleines Mädchen einkaufen ging. Ihre Eltern hingen dem "klassischen Proletariatsgedanken" nach, sagt sie: "Unsere Kinder sollen es besser haben als wir." Sonntags spazierte die Familie um den nahen See, wie es alle Zehlendorfer taten, und die Mutter fragte das kleine 1x1 oder Englischvokabeln ab. Doch obwohl die Familie Weihnachten feierte, hatten die Eltern ein "sehr stolzes Bewusstsein über ihre kulturellen Wurzeln". Ihre Mutter wies deutschen Besuchern aus der Nachbarschaft die Tür, wenn sie unangemeldet Kaffee und Kuchen abgreifen wollten: "Weil wir Türken doch so gastfreundlich sein sollen."
Solcherart positive Diskriminierung war Tünya früh ein Gräuel - bis heute. Sätze wie "Du bist die netteste Türkin, die ich kenne" regen sie jedes Mal auf. "Warum heißt es nicht: Du bist ein toller Mensch? Warum der Bezug auf meine Herkunft?"
In der Pubertät hat sie ihr "türkisches Coming Out"
In der Schule musste sie Referate über die Türkei halten und ärgert sich heute noch: "Wieso nicht über Bangladesch?" Als Kind war sie "schockiert", wenn sie türkische Bekannte in Berlin-Neukölln besuchte. Sie empfand die Zustände dort als fürchterlich und fragte sich: "Wie benehmen sich diese Menschen bloß? Weil wir das einfach nicht kannten."
Irgendwann in der Pubertät registrierte sie, wie ihre Eltern wegen der rassistischen Anschläge in Mölln und Solingen vor dem Fernseher weinten. Sie nennt diese Zeit ihr "türkisches Coming Out". Mit 18 brach sie aus Zehlendorf aus. "Ich wollte nicht mehr in einer weißen, deutschen Gesellschaft hocken, sondern an einem Ort leben, wo ich nicht mehr auffalle und von außen definiert werde."
Nach ihrem Umzug - erst nach Wedding, dann nach Kreuzberg, zwei multi-ethnische Bezirke - begann sie, "Angst und Emotionen mit anderen Menschen zu teilen, die keine rein weiß-deutsche Geschichte haben". Und ihre Erinnerungen an Türkei-Reisen wachzuhalten: "Ich will im Supermarkt auf Türkisch die Schokolade kaufen, die ich in der Türkei mit meinen Cousinen gegessen habe."
Erst im neuen sozialen Umfeld entdeckte Tünya Özdemir, "dass Türken auch Ärzte und Professor sein können". Vorher, im weißem Kontext Zehlendorfs, sei sie mit dem Vorurteil aufgewachsen: "Türken haben es nicht drauf."
Auch solche Klischees machen sie wütend. Wie etwa das Bild von der "klassischen türkischen Mutti" - als sei die türkische Gesellschaft nicht reich an Facetten. Sie weiß von Medizinern, die in den fünfziger Jahren nach Deutschland gekommen sind, als es hier nicht genügend Ärzte gab. Von einer türkischen Künstleravantgarde. Türken sind nicht einfach nur "Jugendliche ohne Deutschkenntnisse und Ausbildung, die auf die Straße rotzen".
"Warum schreit die Gesellschaft nicht auf?"
Für Schlagwörter wie "Integration" und "Anpassung" hat sie nichts übrig: "Davon bekomme ich die Pocken. Sie sagen: Du gehörst nicht her und sollst geformt werden, bist du passt." Auch der Begriff der Parallelgesellschaft ist ihr zuwider: "Ich bin keine Parallele, sondern Teil dieser Gesellschaft. Ich stehe auch nicht zwischen zwei Kulturen. Sondern fest auf eigenem Boden."
Sie empfindet sich als "Spielball" der Politik, die daran schuld sei, wenn sie in extreme Ecken geschoben werde. "Entweder bin ich die Vorzeigetürkin, die sich besonders gut integriert hat. Oder mich fordert ein Betrunkener in der U-Bahn auf, den Hitlergruß zu machen." Weil man sie als Türkin, als Fremde sehe - und nicht als Tünya, als Künstlerin und Designerin, die eine eigene Galerie hat und jetzt einen Modeladen.
In ihrer Freizeit sammelt Özdemir Berichte und Informationen zu rechtsextremen Übergriffe auf Obdachlose, Migranten oder Punks. "Warum gibt es da keinen emotionalen Aufschrei?" Sie nimmt den Schüler Marco Weiss als Beispiel, der im Jahr 2007 mehrere Monate in der Türkei im Gefängnis saß. "Das bewegte viele. Aber nicht, wenn jemand, der in vierter Generation hier aufwächst, abgeschoben werden soll. In ein Land, das nicht seines ist." Sie fühle sich dann plötzlich nicht mehr als erfolgreiche Geschäftsfrau - sondern Kleinkriminellen nahe, die von Abschiebung bedroht sind.
"Du musst nicht der Django von der Ecke werden"
Sie wünscht sich mehr türkischstämmige Menschen, die andere Bilder bieten ohne sich dabei als "Vorzeigetürken" aufzuspielen. "Wäre es nicht toll, wenn im Abspann eines Films unter 'Schnitt' mal ein türkischer Name auftaucht?"
Ihre Botschaft an türkische Jugendliche: "Nur weil du hier in dritter Generation lebst, musst du nicht der Django von der Ecke werden." Das sagt sie allen, die in ihrem Laden ein Praktikum absolvieren. "Ein türkischer Jugendlicher muss sich mit den Themen Sprachbarriere und Rassismus auseinandersetzen." Das sei der größte Unterschied zu einem deutschen Jugendlichen.
Als negatives Beispiel nennt sie den Fall einer deutschen Lehrerin an einer Kreuzberger Schule, die dort seit 20 Jahren arbeitet, aber den Namen einer türkischen Schülerin regelmäßig falsch ausspricht. "Was passiert in diesem Kind? Es fühlt: 'Du gehörst hier nicht her'."