Intellektuelle in der Politik Moralisten, schweigt!

Französischer Philosoph Bernard-Henri Levy: Deutungsmonopol über Gut und Böse?
Foto: SALVATORE DI NOLFI/ APDie Rolle der Intellektuellen in der Öffentlichkeit ist von einer seltsamen Ambivalenz gekennzeichnet. Wie immer sich der Intellektuelle hier positioniert, er macht es sicher falsch. Sind angesichts von politischen Krisen, Finanzskandalen, Naturkatastrophen, Islamfeindlichkeit und den drohenden Gefahren der neuesten Technik keine Stimmen der Dichter und Denker, Künstler und Wissenschaftler zu vernehmen, lässt der Vorwurf nicht lange auf sich warten: Warum schweigen die Intellektuellen?
Schweigen diese aber nicht, mischen sie sich ein, warnen sie, fordern sie, geben sie gar Empfehlungen für moralische oder militärische Interventionen, heißt es gleich: Warum können sie nicht schweigen? Mit anderen Worten: Entweder schweigen die Intellektuellen, obwohl sie sich doch einmischen sollten; oder sie mischen sich ein, dabei sollten sie doch schweigen.
Solche Uneindeutigkeit hat ihre Gründe. Denn weder weiß man genau, was unter einem Intellektuellen zu verstehen ist, noch, was es heißt, sich als Intellektueller in was auch immer einzumischen.
Einfacher, als den Intellektuellen und sein Engagement zu definieren, ist es wahrscheinlich, einmal festzuhalten, was ein Intellektueller nicht ist.
- Ein Wissenschaftler, der auf seinem Gebiet forscht, ist noch kein Intellektueller, auch dann nicht, wenn er hin und wieder von der Politik um Rat gefragt wird und in der einen oder anderen Ethikkommission sitzt.
- Ein Dichter, der Gedichte schreibt, ist auch noch kein Intellektueller, auch dann nicht, wenn er sich hin und wieder im Feuilleton zum Verschwinden gedruckter Gedichte äußert.
- Ein Künstler, der Bilder malt, ist auch noch kein Intellektueller, auch dann nicht, wenn seine Bilder anklagen, provozieren oder verstören.
- Ein Philosoph, der philosophiert, ist auch noch kein Intellektueller, auch dann nicht, wenn er über Gerechtigkeit in der Postdemokratie nachdenkt und zu diesem Thema gerne von Studierendenvertretungen eingeladen wird.
Umgekehrt gilt aber auch: Wer weder forscht, noch schreibt, noch dichtet, noch malt, noch philosophiert, kann erst recht kein Intellektueller sein.
Sollen Intellektuelle Distanz halten? Oder Partei nehmen?
Sich nur einzumischen, ist auch zu wenig. Es sind schon die Dichter und Denker, die Künstler und Kulturschaffenden, die zu einem Intellektuellen werden können - dann nämlich, wenn sie ihr Tätigkeitsfeld verlassen und mit dem Renommee, das sie in diesem Feld erworben haben, in einer politischen und moralischen Frage mahnend, protestierend, empört oder fordernd ihre Stimme erheben.
Was aber bedeutet dies? Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat aus guten Gründen zwei Voraussetzungen genannt, die ein Intellektueller erfüllen muss, um Intellektueller zu sein: Er muss einem relativ autonomen, das heißt von der Ökonomie und Politik unabhängigen Feld des Wissens oder der Kultur angehören und dessen Gesetze akzeptieren; und er muss in eine politische Situation jene Kompetenz einbringen, die er in diesem Feld erworben hat.
Intellektualität ist so wohl an Öffentlichkeit gebunden, nicht aber an eine moralische Position oder an die Parteinahme für eine politische Bewegung oder eine Bevölkerungsgruppe. Nur allzu leicht wird dies verwechselt.
Seit über die Position des Intellektuellen im deutschsprachigen Raum diskutiert wird, lassen sich deshalb grob zwei Argumentationslinien verfolgen:
- Eine, die den Weg zu diesem Eingreifen nur in einer konsequenten Parteilichkeit des Intellektuellen garantiert sehen will und deshalb im Engagement, in der Unterwerfung unter die Politik nicht eine zusätzliche Geste, sondern eine Bedingung intellektueller Tätigkeit sieht; ob dieses Engagement der Arbeiterklasse oder den Frauen, der Volksgemeinschaft oder der Nation, den Obdachlosen oder den Asylsuchenden, den Migranten oder den Homosexuellen, den Bosniern oder den Libyern gehört, tut für die grundsätzliche Bestimmung nichts zur Sache.
- Die andere Argumentationslinie will die Fähigkeit des Intellektuellen zu kritischer Reflexion gerade in seiner relativen Distanz zu den Sphären der Politik und Ökonomie sehen, will in seiner relativen Autonomie vom Politischen die Bedingung für die Produktion unbestechlichen Wissens verankern. Noch die Idee der Unabhängigkeit und Autonomie der Universitäten, den einstigen Produktionsstätten von Intellektualität, zehrte bis in die Organisationsstruktur lange von diesem Gedanken.
Deutungsmonopol über Gut und Böse
Seit Universitäten zu Unternehmen mutierten, die deren betriebswirtschaftlicher Logik unterworfen sind, haben sie allerdings aufgehört, ein genuiner Ort einer Intellektualität zu sein, die diesen Namen verdient. Damit ist der Weg frei für den rezenten Typ des Intellektuellen: den politisch engagierten Moralisten.
An die Stelle einer intellektuellen Analyse und Kritik der Gesellschaft ist nun ein moralischer Diskurs getreten, der wieder ganz auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse setzt - Hirnforschung hin oder her. Ein Indiz dafür mag etwa sein, dass die komplexe Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht, die Generationen deutscher, französischer und amerikanischer Intellektueller inspiriert hatte, nun ersetzt worden ist durch die starre, asymmetrische und moralisch hochkonnotierte Dualität von Täter und Opfer.
Die Analyse der komplexen Beziehungen zwischen Herr und Knecht, die von Hegel über Marx bis zu Kojève und Foucault die avancierten Theorien der Macht auszeichnete, kann nun substituiert werden durch die Bestimmung der Täter und ihrer Opfer. Alles Weitere ist dann klar: Die Täter können verurteilt werden und die Opfer beweint. Empörung stellt sich ein - und Betroffenheit. Der Intellektuelle der Gegenwart zeichnet sich dadurch aus, dass er das Deutungsmonopol beansprucht, wer Täter und wer Opfer ist. Das gibt ihm die aktuelle Macht im medialen Diskurs.
Ob diese moralische Urteilskraft, die heute als das einzig gültige Zeichen akzeptierter Intellektualität gilt, allerdings aus der Doppelung von fachlicher Kompetenz und öffentlicher Wirksamkeit erwächst - und nur dies würde die Einheit von Moral und Intellektualität legitimieren - scheint fraglich.
Wunschvorstellungen der Öffentlichkeit
Seit Emile Zolas "Ich klage an" gehört das Bild vom Schriftsteller, der das Gewissen einer Nation repräsentiert, zu den liebgewordenen Wunschvorstellungen einer Öffentlichkeit, die selbst offensichtlich gewissenlos genug ist, um immer jemanden als personifiziertes Gewissen zu gebrauchen.
Es gehört zu den großen Mythen der Gegenwart, dass Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller eine besondere Verantwortung gegenüber der Welt hätten. Diese teilen sie aber lediglich mit allen Menschen, die guten Willens sind. Keine Frage also, dass dort, wo Unrecht geschieht, Intellektuelle wie andere auch ihre Stimme erheben können; keine Frage, dass auch prominente Intellektuelle - andere sind ohnehin nicht erwünscht - ihren Namen dazu hergeben können, Hilfsaktionen und Kampagnen aller Art zu unterstützen, wenn es denn schon nicht ohne medienwirksames Namedropping geht.
Dabei haben Intellektuelle aber oft nicht mehr Kompetenz als siegreiche Sportler, ökologisch gewendete Firmenbosse, Politiker mit hohen Sympathiewerten oder zu frühem Ruhm gelangte Fernsehstars.
Unerträglich aber wird es, wenn nicht die intellektuelle Kompetenz den öffentlichen Eingriff fundiert, sondern der moralisierende Zeigefinger die intellektuelle oder künstlerische Kompetenz ersetzt. Dass es in den letzten Jahren nicht immer erstklassigen Schriftstellern, Musikern und Entertainern gelungen ist, sich selbst als Intellektuelle darzustellen und die große moralische Geste als Inbegriff einer intellektuellen Tugend medienwirksam zu präsentieren, hat zu einer Situation geführt, in der nur mehr verurteilt statt geurteilt wird, in der Bekenntnisse statt Analysen gegeben werden, in der pausenlos irgendjemand sich entrüstet, empört oder schämt, jemanden anderen auffordert, sich zu entrüsten, zu empören, zu schämen oder zurückzutreten, und in der Denken, das eigentliche Metier des Intellektuellen, zur unerwünschten Tätigkeit geworden ist.
Niemand ist durch Macht so leicht verführbar wie der Intellektuelle
In den "Minima Moralia" hatte Theodor W. Adorno einmal bemerkt, dass man es den Intellektuellen nie verzeihen werde, dass sie den Anspruch hatten, sich die Hände nicht schmutzig zu machen - das galt zumindest für jene Zeiten, in denen Intellektuelle noch im Elfenbeinturm saßen.
Anstatt aber daraus den Schluss zu ziehen, dass es auch für andere günstig sein könnte, die Finger aus dem Dreck zu ziehen, setzten die vermeintlichen Intellektuellen nun alles daran, mitzumachen und sich mit dem Morast der Geschichte und dem Dreck der Macht zu besudeln. Denn niemand ist durch Macht so leicht verführbar wie der Intellektuelle - weil er sie nicht hat und nicht haben kann.
Die kurze Zeit eine enthusiasmierte Öffentlichkeit erregende Karriere von Schriftstellern und Wissenschaftlern in manchen osteuropäischen Staatskanzleien war zwar nur ein kurzes Zwischenspiel in den Jahren nach 1989; solche Karrieren zeigten aber auch, dass es der Struktur von Macht letztlich doch widerspricht, wenn sie mit jener Position gefüllt wird, die sie einmal von außen kritisierte.
Kritik lässt sich nicht in Macht transformieren. Der Philosoph, der zum Politikberater wird und sich rühmt, durch das eine oder andere Telefonat den einen oder anderen militärischen Schlag initiiert zu haben, demonstriert damit weniger seinen politischen Sachverstand als vielmehr die Korrumpiertheit seines Geistes. Stark müsste derjenige Intellektuelle genannt werden, der den Verführungen der Praxis widersteht, jener analen Lust, die sich sehr wohl die Hände schmutzig machen will, und die Adorno übersehen hat. In Zeiten, in denen allerdings schon jedem Erstsemestrigen unmissverständlich klargemacht wird, dass entscheidend allein das Praktikum ist, hat die Idee von Intellektualität als institutionalisierter Praxisferne ohnehin ausgedient.
Was bleibt, sind penetrante Moralisten und von Medien akklamierte Selbstdarsteller, die sich in der Rolle des Intellektuellen gefallen, ohne den Text, den sie angeblich spielen, je verstanden zu haben. Diese zumindest könnten auch schweigen.