Internetdialog der Kanzlerin Hetzen, schießen, kiffen

Kanzlerin Merkel: Was schreiben die Bürger denn da?
Foto: Bernd Von Jutrczenka/ dpaBerlin - Die Planer im Kanzleramt hatten schon so eine Ahnung. Von einem Experiment war dort die Rede, als man im Internet den Bürgerdialog mit Angela Merkel startete, von einem "offenen Prozess mit Risiken". Nun ist die erste Woche des Experiments um, und die Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten.
Denn wenn Merkel es ernst meint mit ihrer Ankündigung, die Initiatoren der zehn am besten bewerteten Ideen im Herbst dieses Jahres ins Kanzleramt einzuladen, dann kann sie sich schon jetzt darauf einstellen, in ihrer Regierungszentrale unter anderem Islamkritiker, Cannabis-Freunde und Waffenfans zu begrüßen.
Seit sieben Tagen können die Menschen im Land der Kanzlerin auf der Online-Plattform www.dialog-ueber-deutschland.de mitteilen, was sie bewegt. Sie können ihr Vorschläge machen, was sie besser machen, worum sie sich kümmern sollte. Die anderen Internetnutzer entscheiden per Mausklick, ob ihnen die Anregung gefällt. Da wird über ein bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert, ein bundesweit einheitliches Bildungssystem gefordert, die Abschaffung des Solidaritätsbeitrags oder eine Autobahngebühr für Ausländer. Alles schön und gut, wird man sich im Merkel-Lager denken.
Dumm nur, dass ganz andere Beiträge deutlich populärer sind. Etwa der von Internetnutzer "Thomas Martin", der eine "offene Diskussion über den Islam" will. "Das Thema Islam wird von Politik und Medien gründlich gemieden", schreibt er, "Islamkritiker werden bestenfalls ignoriert, meist aber diffamiert, Islamkritik wird pathologisiert und kriminalisiert." Eine argumentative Auseinandersetzung über den Islam müsse endlich stattfinden.
Von dieser argumentativen Auseinandersetzung kann in den Kommentaren unter dem Beitrag keine Rede sein. Die Tonlage ist scharf, einer beklagt die "Überflutung der Sozialsysteme", ein anderer wettert gegen die "medienverseuchte Gesellschaft, Deutschenhasser und Heimatleugner". Ein Dritter meint, als Deutscher im eigenen Land längst "Mensch 2. Klasse" zu sein. Andere halten dagegen, wittern rassistische Motive oder gar eine Unterwanderung des Forums durch Rechtsradikale. Die Mahner sind in der Minderheit. Fast 18.000 Unterstützer (Stand Mittwochmorgen) haben sich für den Aufruf zur Islamkritik bereits gefunden - das ist der unangefochtene Spitzenplatz.
Der Hanfverband bleibt hartnäckig
Ist die Islamdebatte wirklich ein Thema, das den Menschen derart unter den Nägeln brennt? Oder haben Rechtspopulisten einfach bisher nur besonders gut ihre Klientel mobilisiert, etwa in einschlägigen Islamhasser-Foren wie Politically Incorrect? Manipulationen bei der Bewertung scheint es derzeit jedenfalls nicht zu geben. Zumindest hat das Bundespresseamt dafür keine "konkreten Anhaltspunkte". Auch wenn "kleinere Unregelmäßigkeiten nicht ganz auszuschließen" seien, sie lägen bei einem offenen Forum in der Natur der Sache. Das Amt hatte die Abstimmfunktion jüngst verschärft, weil unmittelbar nach dem Start eine Sicherheitslücke aufgefallen war.
Politisch unliebsame Beiträge werden nicht aussortiert, solange sie nicht gegen die in Internetforen üblichen Regeln entsprechen. Regelwidrige Beiträge seien bisher aber die Ausnahme, heißt es, nur etwa zwei Prozent der bisher mehr als 3000 eingereichten Vorschläge seien nicht freigeschaltet worden. Wahren die Autoren die Form, spielt das inhaltliche Niveau keine Rolle. Und ein Format wie dieses zieht eben auch Leute an, die der Kanzlerin schon immer mal ihre Meinung sagen wollten.
Nicht unbedingt Merkels Vorstellungen entsprechen dürfte auch der Vorschlag mit den zweitmeisten Stimmen. "Cannabis legalisieren = den Markt für Erwachsene regulieren!", lautet die Forderung von Maximilian Plenert und Georg Wurth. Die beiden sind vom "Deutschen Hanf Verband" (DHV) und fast schon so etwas wie alte bekannte der Kanzlerin. Schon bei Merkels Fragestunden-Premiere auf YouTube hatten sie es nach ganz vorne geschafft, mit der gleichen Frage. Die Antwort der Regierungschefin hat den DHV nicht zufriedengestellt, also versuchen sie es über den Internetdialog noch einmal. Die Erfolgsaussichten sind gut: Schon jetzt haben sie fast 14.000 Unterstützer. "Kiffer sind meistens eh viel relaxter als Leute, die trinken", begründet einer sein Vote.
Merkel lobt "reichen Schatz an Ideen"
Auf etwa die Hälfte an Sympathisanten kommt der Vorschlag eines "Dr Sven Dahl", der es damit als derzeit Vierter auch noch auf die Gästeliste für das Kanzleramt schaffen würde. Unter der Überschrift "Fakten statt Lügen" geht es ihm um das deutsche Waffenrecht. "Ich würde mir eine anhand von Fakten und Tatsachen gesteuerte Diskussion über das völlig überzogene deutsche Waffen- und Sprengstoffrecht wünschen anstatt der zur Zeit üblichen von linken Ideologien gesteuerten Diffamierungskampagnen." Als Sportschütze fühle er sich in die rechte Ecke abgeschoben und als potentieller Amokläufer verunglimpft. Ein anderer Bürger kommentiert dies mit den Worten: "Unglaublich! Auf die Frage: Wie wollen wir zusammen leben? - fällt einigen Zeitgenossen nichts besseres als freier Waffenbesitz ein."
Das wird wohl auch Angela Merkel denken. Sie dürfte nicht besonders erpicht darauf sein, sich im September mit Menschen ablichten zu lassen, die für lockerere Waffengesetze eintreten, den Haschisch-Schwarzmarkt freigeben wollen, oder vor der Islamisierung Deutschlands warnen. "Gratulation meine Damen und Herren Politiker", spottet ein Bürger auf Merkels Online-Plattform. "Das Volk darf seine Meinung kundtun. Und das Volk nutzt es. Bin mal gespannt, wie sie aus dieser Nummer wieder rauskommen wollen."
Vielleicht verrät die Kanzlerin am Donnerstag, wie sie die bisherigen Beiträge ihre Internetdialogs so findet. Dann will sie in einem Livestream-Interview zum Thema Online-Bürgerbeteiligung Stellung nehmen. Bereits am Mittwoch meldete sich Merkel in einem Blog-Eintrag zu Wort. "Der reiche Schatz an Ideen, Wissen und Erfahrungen in unserer Bürgerschaft ist beeindruckend", erklärt sie da und ruft die Bürger auf, weiter mitzumachen und abzustimmen.
Merkel bleibt die Hoffnung. Die Hoffnung, dass sich bis zum Ende des Experiments am 15. April in der Rangliste noch entscheidend etwas tut. Vielleicht zu Gunsten des "Integrationsrates zur Förderung der Deutschlandliebe und des positiven Patriotismus". Oder des "Verbots schariakonformer Halalschlachtung". Aber die liegen auch jetzt schon unter den Top zehn.