Terrorismus Neue IS-Personalakten belasten deutsche Islamisten

Mutmaßlicher IS-Rückkehrer Muhammed H.
Foto: SPIEGEL TVDass Muhammed H. aus Wuppertal ein radikaler Islamist ist, wissen Staatsschützer spätestens seit Anfang des vergangenen Jahres. Damals führte der Deutschtürke seine vollverschleierte Ehefrau an einer Kette spazieren. Das eine Ende hatte er an ihrem Handgelenk fixiert, das andere Ende - so ist es auf Fotos in Behördenakten zu sehen - befestigte er an seinem Rucksack.
Der Hartz-IV-Empfänger aus Nordrhein-Westfalen gilt als "Hochkaräter der Szene", wie ein hochrangiger Beamter über ihn sagt. Er sei "völlig unberechenbar". Obwohl die Behörden ihn schon länger im Visier haben, der 20-Jährige ist als sogenannter Gefährder eingestuft, gelang es ihnen bislang nicht, ihn für längere Zeit aus dem Verkehr zu ziehen. Das könnte sich nun ändern.
Nach Informationen des SPIEGEL gehört H. zu den Extremisten, die von neu aufgetauchten Personalunterlagen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) belastet werden könnten. Auch andere der in den Papieren genannten Islamisten sind auf freiem Fuß, weil ihnen eine Zugehörigkeit zum IS bislang nicht nachgewiesen werden konnte. In mehreren Fällen wussten die deutschen Behörden vor dem brisanten Aktenfund noch nicht einmal sicher, dass sich die mutmaßlichen Dschihadisten in Syrien aufgehalten hatten.
"Ich will nichts mit Ihnen zu tun haben"
Die Dokumente, die dem SPIEGEL und SPIEGEL TV vorliegen, sind sogenannte Ausreisebögen. Die auf Arabisch verfassten Unterlagen geben Auskunft über rund 400 Islamisten, die das IS-Gebiet wieder verlassen haben, darunter etwa 20 Deutsche. Die neuen IS-Personallisten könnten für die Strafverfolgung zurückgekehrter Terror-Touristen bedeutsam werden. Ermittler wollen sie als Belege nutzen, um Dschihadisten wegen ihrer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung belangen zu können.
Dem Papier zufolge reiste Muhammed H. um seinen 18. Geburtstag im Juni 2014 in das Herrschaftsgebiet des IS ein. Etwa sechs Wochen später registrierte der IS seine Ausreise über die Stadt Dscharabulus. Als Tätigkeit hielten die Bürokraten des Terrors für H. fest: "Kämpfer". Konfrontiert mit seinem IS-Personalbogen reagiert H. brüsk: "Sie lügen. Sie sind ein Lügner. Ich will nichts mit Ihnen zu tun haben", sagt er Reportern von SPIEGEL TV. Auch der Hamburger Islamist Lennart M., 23, der den Unterlagen zufolge 2014 für einige Monate dem IS diente, gibt den Ahnungslosen: Seine IS-Akte sei "gefaked", sagt er.

Mutmaßlicher IS-Rückkehrer Lennart M.
Foto: SPIEGEL TVDie Ermittler gehen gleichwohl davon aus, dass die Unterlagen echt sind. Derzeit analysiert das Bundeskriminalamt (BKA), inwiefern sich das auch vor Gericht zweifelsfrei belegen lässt. "Viele der Daten sind plausibel und entsprechen unseren Erkenntnissen", so BKA-Chef Holger Münch. "Das spricht dafür, dass es authentisches Material sein könnte." Gleichwohl sei die Prüfung noch nicht abgeschlossen.
Im Frühjahr waren Dateien aus der Verwaltung des IS durchgestochen worden, auch andere Medien berichteten seinerzeit vor allem über Einreiselisten des IS. Über einen Mittelsmann gelangten die Dokumente an den SPIEGEL und SPIEGEL TV.
Deutsche Behörden erhielten die brisanten Unterlagen aus dem Ausland. Die Inhalte der Personalbögen geben Aufschluss darüber, warum die Terrortouristen das IS-Gebiet verließen. "Er wird nicht wieder aufgenommen, falls er zurückkehrt, weil er Sicherheitsoperationen ohne Wissen des Emirs durchgeführt hat", notierten die IS-Bürokraten zum Beispiel über einen Islamisten aus Süddeutschland in einer der Listen. Die häufigsten Gründe, den IS zu verlassen, waren den Akten zufolge medizinische oder familiäre.
Wissenschaftliche Analyse
Die im Frühjahr geleakten Daten des IS sind auch für Wissenschaftler interessant. Ein Team um Bryan Price an der Militärakademie West Point in New York war das erste, das Dokumente systematisch ausgewertet hat. Grundlage der Analyse waren IS-Einreisebögen von 4173 ausländischen Kämpfern, die der US-Fernsehsender NBC zur Verfügung gestellt hatte. Die spendenfinanzierte Forschertruppe untersuchte die Selbstauskünfte der Dschihadisten, die größtenteils im Jahr 2014 nach Syrien gereist waren. Sie verglichen Herkunft, Alter, Bildungshintergrund, religiösen Sachverstand und besondere Fähigkeiten.
"Die Vielfalt in allen Bereichen ist besonders interessant", sagt Price, Oberstleutnant der US-Armee und Leiter des Forschungsinstituts Combating Terrorism Center (CTC). "Vom Teenager bis zu Leuten in den Sechzigern, von Ungebildeten bis zum Uni-Absolventen ist alles dabei." Im Westen gebe es das Klischee, dass nur frustrierte, alleinstehende junge Männer zum IS wollten. "Aber dieses eine Schema gibt es nicht", sagt Price. Der Mythos eines auf islamischen Grundsätzen basierenden Staates, der auch Gebildete brauche, habe auf qualifizierte Sympathisanten große Anziehungskraft, sagt Price.
"Besonders interessant für den IS schienen Personen mit militärischer Ausbildung oder Hacking-Erfahrung gewesen zu sein. Oder auch Personen mit Visa für westliche Länder", sagt Brian Dodwell, ein IS-Spezialist des CTC. Möglicherweise plante der IS also schon Operationen von IS-Rückkehrern in deren Heimatländern, als westliche Sicherheitsbehörden solche Anschläge in Europa noch für unwahrscheinlich hielten.