Personen, Zellen, Wohnorte Das Netz der deutschen Islamisten

Islamistische Flagge auf Demo (Symbolbild): Das Netz in Deutschland wächst

Islamistische Flagge auf Demo (Symbolbild): Das Netz in Deutschland wächst

Foto: imago

Straßenschlachten in Norddeutschland, junge Männer auf dem Weg in den Dschihad: Die Islamistenszene in der Bundesrepublik ist in Aufruhr. Unsere Datenanalyse zeigt, wie systematisch sich die radikale Untergrund-Szene vernetzt - und in welchen Regionen sie am stärksten ist.

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Islamisten stehen in Deutschland unter besonderer Beobachtung. In Hamburg und Celle sind "radikale Muslime" und Kurden in der vergangenen Nacht aufeinander losgegangen. Aber schon länger beobachten die Sicherheitsbehörden, dass immer mehr junge Islamisten aus der Bundesrepublik in den Krieg in Syrien und dem Irak ziehen. Die Islamistenszene in Deutschland ist also in Bewegung. Doch ist das Netzwerk systematisch organisiert? Wer steht mit wem in Verbindung? Wo sind die Ballungsräume? Lässt sich die Szene ausleuchten?

Dokumentare des SPIEGEL sammeln seit mehr als zehn Jahren Material über gewaltbereite Islamisten. Es stammt sowohl aus öffentlich zugänglichen als auch aus vertraulichen Quellen. Entstanden ist eine Datenbank mit mehr als 380 Personen, die sich offen zum gewalttätigen Islamismus bekennen oder von Behörden als gefährliche Islamisten eingestuft wurden.

Naturgemäß sind die Angaben in solchem Material oft nicht anhand weiterer Quellen überprüfbar, lückenhaft und teils veraltet. Dennoch sind die Daten aufschlussreich, denn sie umfassen rund ein Drittel der gewaltbereiten Islamisten in Deutschland, deren Zahl der Verfassungsschutz in der "Größenordnung" von 1000 sieht.

Einsame Wölfe und gut vernetzte Zellen

In der SPIEGEL-Datenbank sind bei vier von fünf Verdächtigen Verbindungen zu anderen namentlich bekannten Islamisten erfasst - insgesamt sind das mehr als 900 Kontakte. Tatsächlich sind die einzelnen Personen zwar wohl noch stärker vernetzt. Aber schon die dokumentierbaren Verbindungen lassen Strukturen erkennen. Einige Namen können zumindest abgekürzt genannt werden, viele müssen aus rechtlichen Gründen anonym bleiben. Dennoch ergeben die vielfältigen Kontakte ein anschauliches Netzwerk - siehe das interaktive Diagramm:

In dem Netzwerkt gibt es einerseits zentrale Figuren mit teils weitläufigem islamistischen Bekannten- und Komplizenkreis. Etwa Fritz G., einer der Verurteilten der sogenannten "Sauerlandgruppe". Oft sind es diese besonders vielfältig vernetzten Personen, die dann zusätzlich auch zahlreiche Verbindungen ins Ausland unterhalten und viel dorthin reisen.

Andererseits gibt es viele "Inseln": Einzelpersonen oder kleine Gruppen, die möglicherweise keine persönliche Verbindung zu Gleichgesinnten haben. Diese isolierten Kleinzellen dürften in der Datenbank unterrepräsentiert sein - eben weil sie schwieriger zu entdecken sind.

Geografische Schwerpunkte

Von 282 Personen in der SPIEGEL-Datenbank ist der Ort des Lebensmittelpunktes in Deutschland bekannt. Etwa jeder Sechste kommt aus Berlin, insgesamt leben oder lebten mehr als 70 Prozent in Großstädten mit mindestens 100.000 Einwohnern - ein deutlicher Unterschied zur Gesamtbevölkerung, die nur zu 31 Prozent in Großstädten wohnt.

Orte in den ostdeutschen Flächenstaaten kommen in der Liste kaum vor, offenbar weil der Anteil der Muslime dort geschichtlich bedingt deutlich geringer ist als im Westen. Dagegen fällt eine Häufung in Nordrhein-Westfalen auf. Aus dem Bundesland reisen auch vergleichsweise viele Personen nach Syrien, wie Sicherheitsbehörden feststellen.

Typisches Profil: männlich, jung, städtisch

Für den Dschihad sind Frauen nicht vorgesehen, hieß es ursprünglich in der islamistischen Ideologie. Da verwundert es nicht, dass sich unter den Extremisten in der SPIEGEL-Datenbank nur wenige Frau finden. Sechs Prozent der Personen sind weiblich und in der Regel mit einem Verdächtigen verheiratet.

Doch auch hier zeigt sich ein beunruhigender Trend: 2004 befand der islamistische Hamas-Führer Scheich Ahmed Jassin nach dem Selbstmordanschlag einer Frau, dass auch sie die Pflicht zum bewaffneten Kampf hätten. Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes sind bereits 40 Frauen aus Deutschland Richtung Syrien gereist.

Auffällig stark vertreten sind in der SPIEGEL-Datenbank Personen mit Geburtsjahr in den Achtziger- und Neunzigerjahren. Bei 230 der gut 380 Personen ist das Alter bekannt. Allerdings dürften gerade die Neunzigerjahre systematisch unterrepräsentiert sein. Das hat einen einfachen Grund: Bislang konnte nur ein geringer Anteil der Syrienreisenden erfasst werden. Die Ermittler gehen aber davon aus, dass sich unter ihnen extrem viele junge Männer befinden. Dafür sprechen auch die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes: Die meisten Islamisten würden als Jugendliche oder junge Erwachsene radikalisiert.

Der Märtyrertod wird von Islamisten zwar als "erfolgreicher Abgang" gepriesen, wie es ungewollt zynisch in einem Propagandavideo heißt. 37 Todesfälle sind in der SPIEGEL-Datenbank namentlich erfasst, darunter 12 Islamisten, die im Bürgerkrieg in Syrien gestorben sind. Das Bundesamt für Verfassungsschutz rechnet dort bereits mit rund 40 Toten. Da diese Summe nach nicht einmal zwei Jahren zusammenkam, markiert sie einen enormen Anstieg der "Todesrate".

Herkunft instabil, Familie muslimisch

Sind Angehörige bestimmter Staaten besonders anfällig für die Radikalisierung? Das legen die Zahlen nahe. Die Türken stellen in Deutschland mit Abstand die meisten Ausländer, sind jedoch bei den Syrienreisenden unterrepräsentiert. Das mag teils an gelungener Integration liegen, teils an der laizistischen Tradition der Türkei. Anders sieht es bei den acht nächsthäufigen Ausländergruppen in Deutschland aus. Dort sind die verdächtigen Islamisten überrepräsentiert: Aus einer vergleichsweise kleinen Bevölkerungsgruppe kommen auffällig viele Islamisten. Sie stammen meist aus politisch instabilen Staaten mit erheblichem islamistischem Einfluss.

Aus muslimischen Familien stammen die meisten der gewaltbereiten Islamisten in der SPIEGEL-Datenbank. Etwa 17 Prozent der Personen sind Konvertiten. Sie sind damit extrem überproportional vertreten, scheinen also um ein Vielfaches anfälliger für gewaltbereiten Islamismus zu sein als geborene Muslime. Unter den Syrienreisenden sind Konvertiten ebenfalls stark vertreten, laut Verfassungsschutz stellen sie 14 Prozent.

Brandbeschleuniger Syrienkrieg

Auf die deutsche Islamistenszene wirkt der Bürgerkrieg in Syrien wie ein Brandbeschleuniger, der Vormarsch des "Islamischen Staates" verstärkt diesen Effekt offenbar. Obwohl der Syrienkrieg schon seit Sommer 2011 tobt, werden nennenswerte Zahlen von Islamisten aus Deutschland dort erst seit Anfang 2013 beobachtet - jedoch mit deutlichem Anstieg.

Wie viele dieser Syrienreisende tatsächlich kämpfen, ist nicht bekannt. Zugleich ist wegen des schwer zu überwachenden Reisewegs eine große Dunkelziffer wahrscheinlich. Der Trip nach Syrien ist einfacher und billiger als nach Afghanistan, bis zur syrischen Grenze kommt man innerhalb eines Tages.

Zur Propaganda für den Syrienkrieg werden auch soziale Netzwerke genutzt, deutlich intensiver als noch vor einigen Jahren im Afghanistankrieg. Dennoch spielen laut einer Auswertung des Verfassungsschutzes persönliche Kontakte im Freundeskreis und in Moscheen eine größere Rolle - vor allem auf lange Sicht.

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