
S.P.O.N. - Der Schwarze Kanal Ist die Kanzlerin schuld am Brexit?


Kanzlerin Merkel in der Brexit-Debatte
Foto: Wolfgang Kumm/ dpaSo sieht er also aus, der Europafeind: vom Lande, über 60, nicht besonders gebildet. Außerdem hat er etwas gegen das Internet. 71 Prozent der Leute, die für den Brexit gestimmt haben, halten das Internet für eine "Kraft des Schlechten" , wie eine Schnellbefragung nach dem Votum ergeben hat. Dass die Alten die Jugend verraten haben, weil sie das Neue nicht mehr interessiert, ist das große Mantra nach dieser Wahl.
Es liegt auf der Hand, dass von den 17,4 Millionen Ausstiegsbefürwortern nicht alle im englischen Hinterland leben können, wo man außer dem Internet auch Feministen, Grüne und Ausländer verachtet. Sogar in der Region London, dem Inbegriff des lässigen, weltoffenen Lebens, haben 40 Prozent für den Ausstieg gestimmt.
Aber dass auch jemand mit Hochschulabschluss und einem Job mit Perspektive gegen die EU gestimmt haben könnte, scheint einfach nicht vorstellbar. Wenn Leute freiwillig einen Klub verlassen, den die anderen Klubmitglieder als Himmel auf Erden preisen, lässt sich eine solche Kränkung am ehesten verkraften, indem man die Zurückweisung mit der Beschränktheit der Neinsager erklärt.
Auf den Soziologen Werner Sombart geht der Befund zurück, die Engländer seien ein Volk von Krämerseelen, die das Geld über die Freiheit stellen würden, wohingegen sich im deutschen "Heldenvolk" der Idealismus erhalten habe. Auch das darf man jetzt zu den Gewissheiten zählen, die sich mit dem Brexit erledigt haben.
Es mag irgendwo in North Lincolnshire ein paar verwirrte Geister geben, die glauben, dass mit der Abwendung vom Kontinent nun das Paradies komme. Es soll ja auch Leute geben, die den Ukip-Anführer Nigel Farage für einen ernst zu nehmenden Politiker statt für einen politischen Handtaschenverkäufer halten. Aber wer in den vergangenen Wochen nicht Augen und Ohren verstopft hatte, wusste, dass es eine riskante Sache ist, aus der EU auszusteigen.
Die auffällige Unlust, sich mit den Gründen für den Wahlsieg zu beschäftigen
Obama hat vor dem Ausstieg gewarnt, der IWF und nahezu jeder Ökonom von Rang. Dass sich eine Mehrheit der Briten trotzdem dafür entschied, die Unabhängigkeit zu wählen, vergrößert verständlicherweise die Überraschung bei den Verlassenen. Überall kann man jetzt lesen, viele Briten hätten gar nicht gewusst, wogegen sie stimmen und würden ihre Entscheidung gerne rückgängig machen. Doch das ist Teil des therapeutischen Programms, das die Medien hierzulande zur psychologischen Entlastung ihrer Leser anbieten. Auch der Mythos, die Alten hätten den Jungen die Zukunft gestohlen, lässt sich leicht widerlegen. Bei den 18- bis 24-Jährigen lag laut Sky Data die Wahlbeteiligung bei 36 Prozent. Wenn überhaupt, dann haben die Jungen die Zukunft verpennt.
Mit dem Entsetzen über den Wahlausgang in Großbritannien korrespondiert eine auffällige Unlust, sich mit den Gründen für den Wahlsieg zu beschäftigen. Dass eine der ältesten Demokratien der Welt das Vertrauen in die europäischen Institutionen verloren haben könnte, weil ihr die Demokratie am Herzen liegt, ist ein Gedanke, der gleich wieder verbannt wird. Stattdessen hört man, wie rücksichtslos David Cameron war, ein Referendum anzusetzen. Man könne über eine so komplizierte Sache wie die EU-Mitgliedschaft keine Volksbefragung veranstalten, lautet das in zahlreichen Variationen vorgetragene Argument.
Es ist erstaunlich, wie viele Kommentatoren das nachgeplappert haben, ohne sich bewusst zu sein, was sie damit über ihr Demokratieverständnis sagen. Übersetzt heißt der Satz: Wahlen sind immer nur gut, solange das herauskommt, was der gebildete Teil für richtig erachtet. Oder wie es der "Stern"-Kolumnist Micky Beisenherz auf den Punkt brachte: "Demokratie ist eine feine Sache. Das Dumme daran ist nur, dass die Doofen mitmachen dürfen."
"Vertiefung" ist das Codewort für die weitere Machtverlagerung nach Brüssel
Dass die Ankündigung von Geert Wilders und Marine Le Pen, jetzt auch in Frankreich und den Niederlanden für Referenden zu sorgen, als Drohung verstanden wird, zeigt die fundamentale Schwäche des europäischen Projekts. Worüber soll man das Volk denn abstimmen lassen, wenn nicht über die zentralen Fragen? Über die Höhe der Roaminggebühren oder das Geschlechterverhältnis bei den Ampelmännchen?
Ginge es um eine echte Bestandsaufnahme der Brexit-Gründe, müsste über die Flüchtlingspolitik geredet werden. Man wird nie beweisen können, welchen Anteil Merkels Politik der offenen Grenzen für den Ausgang des Referendums spielte. Aber dass die Bilder von Flüchtlingstrecks Richtung Bayern vielen Briten eine Heidenangst eingejagt haben, darf als gesichert gelten. Wenn nicht einmal die disziplinierten Deutschen willens oder in der Lage sind, ihre Grenzen zu schützen, wem soll es dann gelingen?
Die Stimmen waren kaum ausgezählt, da war schon die Rede davon, Europa müsse sich als Antwort auf das britische Referendum vertiefen. "Vertiefung" ist das Codewort für die weitere Machtverlagerung nach Brüssel. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat einen Plan für eine "gemeinschaftliche Wachstumsoffensive" vorgelegt, ein "ökonomisches Schengen", wie er es nennt, was nichts anders bedeutet, als dass den Regierungen die Verfügungsgewalt über noch größere Teile des Haushalts entzogen wird, um die requirierten Finanzmittel dann dahin zu verteilen, wo man in Brüssel Bedarf sieht. Es braucht schon einen sehr speziellen Wirklichkeitsbezug, aus dem Votum der Briten den Auftrag herauszulesen, die nationalen Parlamente weiter zu schwächen.
Populisten wie der EU-Gegner Boris Johnson appellieren an das Gefühl. Leute wie Gabriel sind von der Vorstellung besessen, Politik könne sich Zustimmung erkaufen, indem sie Subsidien von oben verspricht. Man kann darüber streiten, welche Seite das schlechtere Menschenbild hat. In jedem Fall sieht es so aus, als ob diejenigen, die das Herz statt den Geldbeutel ansprechen, im Augenblick die Nase vorne haben.
