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Jahresbericht 2010 Verfassungsschutz warnt vor getarnten Neonazis

Glatze ist out, Jugendklamotten in: Unter Deutschlands Neonazis haben "Autonome Nationalisten" mehr Einfluss bekommen, zugleich steigt die Gewaltbereitschaft. Das ist nur eines der Probleme für Minister Friedrich - auch vor Linksextremen und Islamisten warnt der neue Verfassungsschutzbericht.

Berlin - Deutschlands rechtsextreme Szene wandelt sich: Sie wird unauffälliger. Aber sie wird gefährlicher. Zu diesem Schluss kommt der aktuelle Verfassungsschutzbericht, den Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und Heinz Fromm, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, an diesem Freitag vorstellen werden.

Im Berichtszeitraum 2010 ging die Zahl der politisch rechts motivierten Straften mit extremistischem Hintergrund um 15,2 Prozent zurück - von 18.750 im Jahr 2009 auf 15.905. Die Zahl der Gewalttaten sank um 14,5 Prozent, von 891 auf 762. Doch insgesamt ist die Gewaltbereitschaft angestiegen.

"Insgesamt lässt sich ein Anstieg des Gewaltpotentials sowie der Bereitschaft, Gewalt auch zur Durchsetzung der eigenen politischen Ziele einzusetzen, beobachten", vermerkt der Bericht. Besonders ausgeprägt sei diese Entwicklung unter den Anhängern der sogenannten "Autonomen Nationalisten", während die auffällige Skinhead-Subkultur "für jugendliche Rechtsextremisten zunehmend uninteressant" werde.

Weil sich die neonazistischen "Autonomen Nationalisten" unauffälliger kleiden, sei die Zugehörigkeit zur Szene "äußerlich nur noch selten zu erkennen". Der klassische Skinhead-Stil gelte als veraltet: "Die Szeneangehörigen bevorzugen stattdessen Kleidungsstücke oder Marken, die sich an allgemeinen Trends der Jugendmode orientieren und durch entsprechende Schriftzüge oder Symbole die Zugehörigkeit zur Szene weniger offensichtlich signalisieren", heißt es in dem Jahresbericht. Der Neonazi trägt seltener Glatze und Springerstiefel.

Die Zahl der Neonazis sei "deutlich angestiegen", von 5000 auf 5600. Darunter tausend "Autonome Nationalisten". Die Gesamtzahl der Rechtsextremisten beziffert der Verfassungsschutz auf 25.000 Personen.

Besonders auffällig ist erneut die Konzentration rechtsextremer Gewalt im Osten Deutschlands. Entgegen dem Bundestrend ist dort die Zahl der Taten angestiegen, von den insgesamt 762 rechtsextremen Gewalttaten entfielen allein 304 auf die fünf Ost-Länder. Relativ zur Einwohnerzahl liegen Sachsen-Anhalt (67 Gewalttaten, 2,8 je 100.000 Einwohner), Brandenburg (66/2,6), Sachsen (98/2,3), Thüringen (44/1,9) und Mecklenburg -Vorpommern (29/1,7) im deutschen Negativranking vorn.

Keinen Ost-West-Unterschied, dafür aber ebenfalls rückläufige Zahlen, konstatiert der Verfassungsschutzbericht mit Blick auf den Linksextremismus für 2010. Die Zahl der Straftaten mit extremistischem Hintergrund sank in diesem Bereich auf 3747 (Jahr 2009: 4734, minus 20,8 Prozent), die der Gewalttaten auf 944 (1115, minus 15,3 Prozent). Allerdings gilt auch hier: die Bereitschaft zur Gewalt ist gestiegen.

"Die Anschläge von linksextremistischen Tätern weisen z.T. eine signifikant höhere Aggressivität und Risikobereitschaft auf", vermerkt der Bericht. Körperliche Angriffe "auf 'politische Gegner', das heißt auf tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten und Polizeibeamte werden durchgängig befürwortet". Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) erinnerte daran, dass sich Gewalttaten von Links- und Rechtsextremisten zunehmend häufig gegen Polizisten richteten. Beamte würden "immer öfter in menschenverachtender Weise attackiert", sagte der GdP-Vorsitzende Bernhard Witthaut. "Dabei wird die Polizei zum Objekt hemmungsloser Gewaltausbrüche."

Der Innenminister warnte bei Präsentation des Verfassungsschutzberichts vor einer Spirale der Gewalt zwischen rechtsextremen Neonazis und linksextremen Autonomen. Beide Gruppen träten immer aggressiver auf und stünden sich in ihrem menschenverachtenden Vorgehen in nichts nach.

Negativer Spitzenreiter bei der linksextremistischen Gewalt ist laut dem Bericht im Jahr 2010 der Stadtstaat Bremen (24 Gewalttaten, 3,6 je 100.000 Einwohner), gefolgt von Sachsen (128/3,0) und Berlin (81/2,3). Am positiven Ende der Skala: Rheinland-Pfalz (4/0,1) und Thüringen (2/0,0). Auffällig die Entwicklung in Berlin, wo sich die Zahl linksextremistischer Gewalttaten von 215 im Jahr 2009 auf 81 mehr als halbiert hat. Ein Grund: deutlich weniger Brandanschläge auf Autos.

Allerdings zeichnet sich fürs aktuelle Jahr offenbar eine gegenläufige Entwicklung ab. Innenminister Friedrich sagte, einschließlich Mai 2011 seien in Deutschland mehr linksextreme Gewalttaten verzeichnet worden als im bisherigen Rekordjahr 2009. "Es gibt leider keine Wende, sondern nur eine Delle", so Friedrich mit Blick auf die Zahlen von 2010. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) fürchtet einen neuen Linksterrorismus. "Ich kann nur dringend davor warnen, in den rückläufigen Zahlen des Verfassungsschutzberichts 2010 einen Anlass zur Entwarnung zu sehen", sagte er der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Die aktuellsten Zahlen aus 2011 zum Linksextremismus seien höchst beunruhigend. "Noch nie seit Einführung der bundesweiten Statistik zu politisch motivierter Kriminalität im Jahr 2001 sind die Zahlen beim Linksextremismus in einem ersten Quartal höher gewesen als heute", so Schünemann.

Linke Gewalttäter stünden inzwischen "an der Schwelle zu einem neuen Linksterrorismus". Autonome Linksextremisten nähmen mittlerweile in Kauf, dass bei ihren Anschlägen Menschen ums Leben kämen. "Sie zünden Autos an oder greifen Polizisten gezielt an." Die Geschichte der RAF zeige, dass "der Weg vom Brandanschlag zu gezielten Mordanschlägen nicht weit ist".

Neben den Entwicklungen im Rechts- und Linksextremismus analysiert der 335-Seiten-Bericht des Verfassungsschutzes vor allem den islamistischen Terrorismus. "Deutschland liegt weiterhin im Fokus islamistisch-terroristischer Gruppierungen", heißt es dort.

Der Verfassungsschutz geht von 29 bundesweit aktiven islamistischen Organisationen aus. Das "islamistische Personenpotential" sei leicht angestiegen: von 36.270 Mitgliedern oder Anhängern auf 37.470. Die Anhänger türkischer Gruppierungen bildeten das größte Potential.

Dem sogenannten Salafismus wird sowohl in Deutschland als auch international "wachsende Bedeutung als ideologische Grundlage" zugeschrieben. Salafisten, die sich dem Bericht zufolge an den vermeintlichen Vorstellungen der ersten Muslime und der islamischen Frühzeit ausrichten, erzielten ihre Breitenwirkung in Deutschland "insbesondere über das Internet". So gilt etwa der Attentäter vom Frankfurter Flughafen vom 2. März als Islamist, der über salafistische Internetseiten und Videos radikalisiert wurde. Der 21-Jährige hatte zwei US-Soldaten erschossen und zwei schwer verletzt.

Mit Material von AFP und dpa
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