Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links In den Fängen des Paragrafen 63

Was lernen wir aus dem Fall Mollath? Ärzte und Richter unterwerfen sich allzu leicht einer Ideologie der totalen Sicherheit. Aber die Würde der Eingesperrten ist unser aller Würde - die Politik hat das seit Jahrzehnten nicht wahrgenommen.

Gustl Mollath ist frei. Nach siebeneinhalb Jahren in der Psychiatrie. Es muss sich jemand schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben, um so lange seine Freiheit einzubüßen. Oder er gerät in die Fänge des Paragrafen 63 des Strafgesetzbuchs, wie es Mollath widerfahren ist. Dieser Paragraf regelt die "Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus". Da genügt die Meinung eines Gutachters und die Angst eines Richters, sich dagegen zu wenden - und ein Mensch verschwindet einfach aus der Welt. Alles im Interesse der Sicherheit. Die Gesellschaft verlangt danach. Aber Ärzte und Richter dürfen sich nicht zu willfährigen Dienern einer totalen Sicherheitsideologie machen lassen.

In Florida ist in der vergangenen Woche ein Mann hingerichtet worden, der wahrscheinlich an paranoider Schizophrenie litt. Wie unzivilisiert sind diese Amerikaner, mag man denken. Sie bringen einen Wahnsinnigen um. Zum Glück gilt bei uns der Leitsatz: keine Strafe ohne Schuld. Und wenn so ein armer Teufel "mit dem Kopf unter dem Arm" vor dem Richter erscheint - wie der Gerichtsreporter Gerhard Mauz es formuliert hat -, darf er in Deutschland nicht schuldig gesprochen werden.

Aber was geschieht denn in Deutschland stattdessen mit so einem?

Hingerichtet wird hier ohnehin niemand. Aber er kommt auch nicht in Strafhaft. Sondern er verschwindet womöglich hinter den Mauern einer Anstalt. Niemand weiß, wie lange, für Jahre, nicht selten für immer. Schuldige, Unschuldige, Gesunde, Kranke - wenn der Paragraf 63 sich einmal eines Menschen bemächtigt hat , gibt er ihn ungern wieder her. Die Anstalt kann schlimmer sein als der Knast.

Die Politik hat seit Jahrzehnten nicht ausreichend reagiert

Es war als große Reform gedacht, als 1975 die Paragrafen in Kraft traten, die Schuldfähigkeit und Unterbringung regeln. Als Fortschritt des Rechtes, der Moral, der Zivilität. Der Kranke soll nicht bestraft, sondern behandelt werden. Und das dient dann auch der Gesellschaft. "Die beste Sicherung ist die sichere Besserung", sagten die fortschrittlichen Juristen und Ärzte damals. Aber wohin ist die Reform gekommen?

Einerseits hat manche Hoffnung auf die große Emanzipation der Kranken getrogen. Norbert Leygraf, einer der klügsten Gutachter des Landes, hat einmal geschätzt, dass die Hälfte der psychisch kranken Straftäter nicht heilbar sei. Und andererseits haben die Institutionen von Politik, Medizin und Jurisprudenz auf die Reform des Rechts seit Jahrzehnten nicht ausreichend reagiert.

Vor etwa 20 Jahren schrieb eine Kommission aus Psychiatern, Juristen und Psychologen, der Maßregelvollzug könne "unter den Bedingungen einer gemeinsamen Unterbringung vieler Patienten in einem psychiatrischen Krankenhaus" seine Ziele "nur mehr oder weniger annäherungsweise verwirklichen". Damals war es ebenfalls etwa 20 Jahre her, dass eine Psychiatrie-Enquete festgestellt hatte, dass der Maßregelvollzug in der deutschen Psychiatrie die "Schlusslichtposition" besetzte: Personal, Gebäude, Politik - die Probleme liegen überall, das ist bis heute so.

Es ist eine große Aufgabe, eine Seele zu heilen, in der grauenhafte Erinnerungen oder Phantasien alles durcheinandergebracht haben. Es kostet Mühe und Geduld und Geld. Der bedeutende forensische Psychiater Wilfried Rasch wollte einst sozialtherapeutische Einrichtungen im ganzen Land eröffnen, in denen den Tätern, den gesunden und den kranken, Mitleid mit dem Opfer und Respekt vor den sozialen Normen gelehrt werden sollte. Es wurde nichts daraus.

Unglückliche Ehe von Psychiatrie und Justiz

Stattdessen hat sich die Psychiatrie in ihrer unglücklichen Ehe mit der Justiz eingerichtet. Denn über Gesund und Krank entscheidet nicht der Richter. Er ist kein Arzt. Der "Engel des Rechts" bittet da den "Engel der Medizin" um Hilfe. So hat Robert Musil das ungleiche Gespann im Gerichtssaal genannt. Der eine Engel muss urteilen, der andere soll heilen. Aber schon Musil wusste, dass der Engel der Medizin seine eigene Sendung nur allzu oft vergisst: "Er schlägt dann klirrend die Flügel zusammen und benimmt sich im Gerichtssaal wie ein Reserveengel der Jurisprudenz."

Beide Engel aber finden ihren wahren Herren in der öffentlichen Meinung. Denn was ist die Aussicht auf ein Leben in Freiheit, die jedem Täter vom Grundgesetz garantiert wird, gegen das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Sicherheit, das niemals zu stillen ist? Der Maßregelvollzug soll der "Besserung und Sicherung" dienen, in dieser Reihenfolge. Aber von Anfang an setzten viele Gutachter und Richter lieber auf Sicherung, bei den kranken ebenso wie bei den gesunden Tätern.

Es war eine Blamage für Deutschland, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die deutsche Praxis der Sicherungsverwahrung rügte. Norbert Leygraf, der sich danach mit einigen der Fälle wissenschaftlich beschäftigte, stieß auf Menschen, die demnach seit 13 Jahren zu Unrecht in der Sicherungsverwahrung saßen. Niemand hatte die Verantwortung übernehmen wollen, ihnen ihre Freiheit wiederzugeben, die ihnen zustand.

Straßburg hat auf die unmenschliche deutsche Praxis der Sicherungsverwahrung hingewiesen. Der Fall Mollath macht auf das Unwesen des Paragrafen 63  aufmerksam.

Es ist das Sicherheitsdenken, das den liberalen Rechtsstaat gefährdet.

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