Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links Die Krise des weißen Mannes

Warum bewegt die Brüderle-Debatte das Land? Weil die Leute ahnen, dass es um viel mehr geht als einen geschmacklosen FDP-Opa oder den Sexismus in der Gesellschaft. Es geht um die Macht des weißen Mannes. Und die nähert sich ihrem Ende. Endlich!
FDP-Bundestagsfraktionschef Rainer Brüderle: Die Wucht kommt aus dem Symbolischen

FDP-Bundestagsfraktionschef Rainer Brüderle: Die Wucht kommt aus dem Symbolischen

Foto: Jonas Güttler/ dpa

Ganz Deutschland diskutiert. Das ist eine alte Schlagzeile der "Bild"-Zeitung. Aber hier trifft sie zu: Ganz Deutschland diskutiert über Sexismus. Warum ist das so? Wegen Rainer Brüderle? Oder wegen Laura Himmelreich? Oder weil über Sexismus in Deutschland noch nie richtig geredet wurde? Die Energie, die das Thema entfaltet, findet ihre Quellen jenseits des Offensichtlichen. Hier geht es weder um einen alternden FDP-Politiker. Noch um eine junge Journalistin. Und es geht in Wahrheit nicht einmal so sehr um den Sexismus im Land - allerdings ist zu dem tatsächlich eine Menge zu sagen.

Diese Debatte legt für kurze Zeit den Blick auf eine viel bedeutungsvollere Entwicklung frei: Die Macht des weißen Mannes wankt.

Nichts gegen Rainer Brüderle. Der Mann ist mit vielen Wassern gewaschen und neuerdings ist er Spitzenkandidat der FDP. Aber so viel will das in Wahrheit nicht heißen. Und auch nichts gegen die Journalistin Laura Himmelreich. Wer weiß, was aus ihr eines Tages wird? Aber noch spricht für die junge Kollegin kaum mehr als die vor ihr liegende Zukunft. Ob Herr Brüderle an jenem denkwürdigen Abend vor dem Dreikönigstreffen der FDP an die Pforte der Frau Himmelreich klopfte oder nicht, spielt keine große Rolle und erklärt auch nicht die gemessene Windstärke des Debattensturms. Das Interesse am Sexismus langt dafür auch nicht hin. Es ist nicht so, dass darüber noch nie geredet wurde. Und indische Verhältnisse drohen uns nicht.

Was tat die Frau um Mitternacht an der Bar?

Die Wucht kommt aus dem Symbolischen. Eine junge Frau wehrt sich durch öffentliche Bloßstellung gegen die Zudringlichkeit eines alten Mannes. Sie kehrt die Scham um. Das ist eine mächtige Waffe. Denn die Scham war stets eine Fessel für die Opfer. Wenn es gelingt, den Täter in die Scham zu bringen, ihn bloßzustellen, ist seine Macht gebrochen. Hier geht es nicht um Brüderle. Es geht um den weißen Mann. Der in Amerika die Wahl verloren hat. Der im neuen Tarantino-Film von einem Schwarzen - der aufrecht zu Pferde sitzt, als Herrenreiter daherkommt - niedergeschossen wird. Und über den die "Atlantic"-Reporterin Hanna Rosin kürzlich ein Buch geschrieben hat, Titel: "Das Ende der Männer". Brüderle ist so ein Mann. Das spüren alle, seine Kritiker und seine Verteidiger.

Über die Nacht des Rainer Brüderle hat Claudius Seidl in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" den klügsten Text geschrieben. Er hat nämlich den Artikel, den die belästigte Journalistin im "Stern" veröffentlicht hat, einfach mal gelesen. Er weist auf die wahre Bedeutung der Szene hin, als die Journalistin Himmelreich den FDP-Politiker nachts an der Bar von der Seite anquatscht. Sie selber hat den Moment so beschrieben: "Ich möchte von ihm wissen, wie er es findet, im fortgeschrittenen Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen." Dazu sagt Seidl: "Sexismus ist ein Problem der Macht, und es ist die Reporterin, die das Machtspiel beginnt." Was tat die Frau da um Mitternacht an der Bar? Sie hat in einer Provokation die Macht der Jugend gegenüber der Schwäche des Alters ausgespielt.

Aber es kann gleichwohl keine Frage sein, dass uns in Brüderle eine Art von Männlichkeit begegnet, deren Zeit abgelaufen ist. Männer, die das nicht begriffen haben, sind peinlich. Peer Steinbrück ist übrigens auch so einer, der den Schuss nicht gehört hat. Er selbst sagt, er wolle sich nicht verbiegen. Aber die Leute zucken verständnislos mit den Schultern. Die "Zeit" hat neulich über seine flamboyante Art geschrieben, Steinbrück wirke "etwas aus der Zeit gefallen". 

Die Erde wird zur "Fundsache"

Die Welt wird weiblicher, aber vor allem wird sie bunter, multikultureller - im eigentlichen Wortsinn. Das heißt nicht, dass sie besser wird. Das waren auch nur Vorurteile. Es gibt positiven Sexismus, so wie es positiven Rassismus gibt. Es geht einfach die Dominanz des weißen Mannes ihrem Ende entgegen.

In Amerika kehrt sich die Definition der ethnischen Minderheit gerade um: Zum ersten Mal wurden im vergangenen Jahr mehr nicht-weiße Babys als weiße geboren. Peter Scholl-Latour, der als einer der wenigen in Deutschland solche Fragen mit kühlem Kopf beurteilt, hat in Brasilien schon das Entstehen einer "raza cosmica" beobachtet, einer globalisierten, vermischten Rasse, in der er die Zukunft der globalisierten Menschheit erkennt. Die Chinesen halten gar nichts von unserer Streitkultur. Sie schätzen die Harmonie. Und was wir als Menschenrechte ausgeben, ist für große Teile der Welt nichts als Herrschaftswerk westlicher Heuchelei.

"Die Erde gehört immer der gegenwärtigen Generation. Sie mag darüber und was ihr daraus zuwächst in der ihr gegebenen Zeit verfügen wie es ihr gefällt." Dieses Zitat aus einem Brief Thomas Jeffersons steht in Washington an einer Wand in der Library of Congress. Das ist der Geist der Aneignung, der Geist des weißen Mannes: Hier wird die ganze Erde zur "Fundsache". Mit dieser schönen Formulierung hat Sloterdijk das gefasst. Es spielt gar keine Rolle, ob wir begrüßen oder bedauern, was daraus wurde. Es wurde. Aber in absehbarer Zeit ist es vorüber.

Denn der weiße Mann wird bedroht, von der Demografie und vom Feminismus. Da ist es kein Wunder, wenn er etwas gegen Muslime hat und Probleme mit Frauen. Wie schmollende Sünder versuchen sie jetzt, sich aus der Affäre zu ziehen, die alten und die alternden Männer, wenn sie beklagen, wie trostlos hierzulande geflirtet wird, oder davor warnen, dass die Sexismus-Debatte am Ende zum Verbot gemischter Saunas führen könnte. Aber ihre Zeit geht langsam zu Ende. Und mit ihr eine breitbeinige, selbstverliebte, schenkelklopfende, männerbündlerische, brutale Unkultur. Das ist kein Verlust.

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