Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links Böser Russe, guter Ami

Bundespräsident Gauck fährt nicht zu den Winterspielen in Sotschi, Kanzlerin Merkel unterstützt die Opposition in Kiew: Wenn es gegen Russland geht, nehmen es die beiden Ostdeutschen mit den Menschenrechten sehr genau. Die USA können mit mehr Nachsicht rechnen.
Kanzlerin Merkel, Bundespräsident Gauck: Besonderes Verhältnis zu Russland

Kanzlerin Merkel, Bundespräsident Gauck: Besonderes Verhältnis zu Russland

Foto: Kay Nietfeld/ picture alliance / dpa

Der Bundespräsident hat ein Zeichen gesetzt. Er wird nach SPIEGEL-Informationen nicht zu den Olympischen Winterspielen ins russische Sotschi reisen. Der unausgesprochene Grund: In Russland werden die Schwulen unterdrückt, und die Polit-Künstlerin Nadeschda Tolokonnikowa sitzt in einem sibirischen Straflager.

Russland bedrängt zurzeit auch die Ukraine, sich nicht nach Westen zu wenden. Grund genug für Angela Merkel, Partei für die ukrainische Opposition zu ergreifen. Neueste Entwicklung: Die Kanzlerin will nach SPIEGEL-Informationen den Boxprofi Vitali Klitschko zum Oppositionsführer und Gegenkandidaten zu Präsident Janukowitsch aufbauen.

Das sind große Gesten. Ist das der neue Stil der deutschen Außenpolitik? Werden wir demnächst gegenüber den USA so entschlossen auftreten wie jetzt gegenüber den Russen?

Oft muss sich die Bundesrepublik wegen ihrer läppischen Außenpolitik schelten lassen. Syrien, Nahost, Libyen: "Wo ist Deutschland?", möchte man da in Erinnerung an eine denkwürdige Sportübertragung rufen. Aber wenn es um Russland geht, dann ist Deutschland kaum zu überholen. Im Vergleich zur gewohnten Gelassenheit wirkt die deutsche Außenpolitik gegenüber dem russischen Großreich derzeit geradezu aggressiv. Gaucks Olympia-Boykott ist ein diplomatischer Affront. Und Merkels offene Unterstützung für Klitschko ist eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates.

Mit den USA würden sich Gauck und Merkel nie so schroff anlegen

Beides ist sehr ungewöhnlich für die deutschen Staatsspitzen. Man hätte gerne die Gesichter im Auswärtigen Amt gesehen, als Gaucks Entscheidung bekannt wurde. Andererseits ist man dort Kummer gewohnt, seit die Außenpolitik vor geraumer Zeit ins Kanzleramt gewandert ist.

Im Juni verabschiedete die russische Duma ein Gesetz, das jede "Propaganda" für Homosexualität gegenüber Minderjährigen unter Strafe stellte. Was wir für Fortschritt halten, nennen sie im Osten Dekadenz. Wer mag, hätte die russische Gesetzgebung als guten Grund anführen können, die Winterspiele in Sotschi zu boykottieren.

Andererseits gäbe es dann allerhand abzusagen, hier eine Weltmeisterschaft, dort einen Handelskontrakt... Aber keine Sorge, die Deutschen werden nicht im Ernst damit anfangen, ihren außenpolitischen Kompass nach der Moral zu stellen. Hier geht es nur um die Russen. Mit den USA beispielsweise würden sich Gauck und Merkel niemals so schroff anlegen.

Wir wissen das seit diesem Sommer. Gaucks erste Worte nach den Enthüllungen von Edward Snowden lauteten, sollte es sich bei dessen Taten um "puren Verrat" handeln, habe er dafür kein Verständnis. Es dauerte dann eine Weile, bis man im Bundespräsidialamt das ganze Ausmaß des amerikanischen Machtmissbrauchs erfasste und bis der Präsident sich zu einem "Diese Affäre beunruhigt mich sehr" aufraffte und sagte, ein Mann wie Snowden verdiene "Respekt". Weiter wollte Joachim Gauck dann aber auch nicht gehen. Und Angela Merkels Worte zu dem Skandal waren so belanglos, dass sie sogleich in Vergessenheit geraten sind. Nur an ihre Erkenntnis, das Internet sei "für uns alle Neuland", wird man sich noch lange erinnern.

Wann kümmern sich Gauck und Merkel um unsere Rechte?

Natürlich haben weder Merkel noch Gauck jetzt noch einmal das Wort ergriffen, als die jüngste Weiterung des Skandals bekannt wurde: die Amerikaner sammeln weltweit fünf Milliarden Datensätze von Handys - pro Tag.

Man muss Verständnis für Merkel und Gauck aufbringen: Sie wären die einzigen Menschen der Welt, deren Handeln nicht durch biografische Prägung beeinflusst wäre. Und wir haben, beinahe ein Vierteljahrhundert nach der Wende, nun einmal die unerwartete Situation, dass sowohl der Präsident als auch die Kanzlerin aus dem Osten stammen und darum ein ganz besonderes - schlechtes - Verhältnis zu Russland haben. Im gleichen Umfang neigen sie aber beide dazu, die USA als jenen Heilsbringer misszuverstehen, der sie schon lange nicht mehr sind.

Warum wurde Gauck als Präsident der Freiheit apostrophiert? Warum hat er ein Buch geschrieben, das einfach so heißt, "Freiheit"? Weil Gauck nur die Bedrohungen der Freiheit gelten lässt, die er kennt. Und die Russen kennt er eben von früher aus dem Osten. Gauck kann sich gar nicht vorstellen, dass die viel größere Bedrohung unserer Lebensweise heute aus dem Westen kommt. Merkel könnte es sich vielleicht vorstellen, will aber nicht.

Wir bleiben mit der Überlegung zurück: Sollen die beiden ruhig beherzt für die Rechte von russischen Schwulen und ukrainischen Oppositionellen eintreten. Aber wenn sie ihr Russen-Trauma abgearbeitet haben, könnten sie sich dann auch mal um unsere Rechte kümmern?

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