Jamaika-Zwischenbilanz Ins Etappenziel geschleppt

Merkel mit CDU-Sondierern
Foto: TRUEBA/ EPA-EFE/ REX/ ShutterstockDie Kanzlerin glaubt noch an das Gelingen von Jamaika.
Das ist eine durchaus bemerkenswerte Nachricht zum Ende einer Woche, die manchen Sondierer an das mögliche Scheitern der Jamaika-Gespräche hat glauben lassen. Und zwar auch deshalb, weil Angela Merkel in den bisherigen Verhandlungen so wenig in Erscheinung getreten war - nach innen wie nach außen. "Aber ich glaube nach wie vor, dass wir die Enden zusammenbinden können, wenn wir uns mühen und anstrengen", sagte die CDU-Chefin am späten Freitagvormittag, bevor sie zu einem Treffen mit den Verhandlungsführern von FDP, Grünen und CSU zusammenkam.
Einmal hatte sich Merkel bisher zu den Sondierungen geäußert - ganz zu Beginn der Gespräche vor 14 Tagen. Seitdem kein öffentlicher Satz mehr von ihr, während sich besonders Vertreter der kleinen Parteien umso lauter Tag für Tag öffentlich einließen. Aber auch in den Gesprächen hielt sich Merkel Teilnehmern zufolge sehr zurück. Die Kanzlerin moderierte, erteilte das Wort, stoppte die Zeit der Beiträge. Viel mehr tat sie nicht.

Dabei geht es in diesen Wochen ja nicht nur um die Frage, ob die vier potenziellen Partner am Ende wirklich zusammenkommen - sondern auch um das politische Überleben der Kanzlerin. Das Scheitern der Jamaika-Gespräche dürfte auch das Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel bedeuten, wenn sich die SPD weiterhin einer Regierungsbeteiligung verweigert: Dann drohen Neuwahlen. Kaum vorstellbar, dass die Union dabei nochmals mit der Spitzenkandidatin Merkel antreten würde.
Und dann gibt es für besonders Fantasiebegabte ja noch ein Szenario: Die SPD bricht ihr Oppositions-Dogma und willigt in eine erneute Große Koalition ein - nur unter der Bedingung allerdings, dass die Regierung nicht mehr von Merkel angeführt wird.
Aber so weit ist es noch nicht: Offenbar hat sich die Kanzlerin nun doch entschieden, für Jamaika und ihre eigene politische Zukunft zu kämpfen. Dafür ist es allerdings auch höchste Zeit, wenn man die dürftige Bilanz der bisherigen zwei Sondierungswochen betrachtet - und gleichzeitig den engen Zeitrahmen in den Blick nimmt. Nur noch knapp zwei Wochen bleiben für die Sondierungen, bevor die vier Parteien am 17. und 18. November über die Ergebnisse und die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen beraten - bei den Grünen entscheidet darüber am Samstag darauf sogar ein Parteitag.
In der Union spricht man von "Neustart"
Um das zu schaffen, war bei der Union zuletzt sogar von einem "Neustart" die Rede: Selbst die thematischen Runden seien bislang noch zu groß, das Vertrauen zu klein, die inhaltlichen Differenzen nach wie vor riesig und Kompromissbereitschaft kaum zu erkennen.
Vor allem aber ließen gerade Vertreter der drei kleinen Parteien keine Gelegenheit aus, sich gegenseitig öffentlich zu beschimpfen. Selbst wenn manches davon inszeniert wirkt - mitunter wurden Grenzen überschritten. Beispielsweise, als CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer am Donnerstag den Grünen-Politiker Robert Habeck als "schizophren" titulierte, weil dieser aus Sicht des Christsozialen eine falsche Interpretation der Gespräche zum Thema Landwirtschaft verbreitet hatte. Wie ernst es die FDP wirklich mit Jamaika meint, zog zuletzt mancher Grüne in Zweifel. Dort glauben einige, die Liberalen würden mit immer neuen Provokationen darauf hinarbeiten, dass irgendwann jemand von den Grünen entnervt aufgibt - nur um dann sagen zu können: "An uns hat es nicht gelegen."
Denn eines ist klar: Wer öffentlich den Schwarzen Peter für das Nicht-Zustandekommen von Jamaika erhielte, würde wohl politisch den größten Schaden nehmen.
Jamaika-Themenkomplexe mit gemeinsamem Papier
Ziel ist wie bisher ein ausgeglichener Haushalt. Zudem soll der Solidaritätszuschlag abgebaut werden - offen ist wann und für wen. Auch für Steuererleichterungen zeigen sich die Verhandler grundsätzlich offen.
Neben einem grundsätzlichen Bekenntnis zu einem geeinten Europa und zur "herausgehobenen Bedeutung" der deutsch-französischen Zusammenarbeit gibt es hier noch nichts Substanzielles.
Die Ausgaben für Bildung und Forschung sollen deutlich gesteigert und die digitale Infrastruktur ausgebaut werden. Bis zum Jahr 2025 will man dazu mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufwenden. Der Breitbandausbau soll vorangetrieben, Funklöcher geschlossen werden.
Die Situation in der Pflege und Medizin soll sich insbesondere im ländlichen Raum verbessern vor allem durch mehr Personal und eine bessere Ausstattung. Besonderen Handlungsbedarf sieht man bei der Notfallversorgung. Der Mindestlohn soll weiter Bestand haben, als großes Ziel wird Vollbeschäftigung in Deutschland genannt. Ferner sollen Sozialversicherungsbeiträge bei 40 Prozent stabilisiert werden, über die Absenkung der Arbeitslosenbeiträge will man nachdenken. Die Tarifautonomie soll weiter gestärkt werden, für die Rente mit 63 Jahren die Möglichkeit "flexiblerer Übergänge" nicht ausgeschlossen bleiben.
Der Wohnungsbau soll angekurbelt werden, die Kommunen will man stärken. Die kommunale Selbstverwaltung bleibt unangetastet, strukturschwachen Kommunen soll auch zum Schutz des gesellschaftlichen Zusammenhalts finanziell geholfen werden. Die Aufarbeitung der NS-Geschichte und der DDR-Diktatur soll weiter intensiviert werden.
Die wirtschaftlichen Interessen der Landwirte sollen besser in Einklang mit dem Klima-, Boden- und Gewässerschutz gebracht werden die genauen Instrumente sind aber offen. Einigkeit besteht lediglich darin, "dass die Kosten nicht einseitig zu Lasten der Bauern gehen" dürften. Grundsätzlich sollen weniger Chemikalien zum Einsatz kommen. Für Verbraucher will man neue Klagewege für Fälle mit Tausenden Betroffenen wie beim Diesel-Skandal prüfen. Diskutiert werden soll auch über mehr digitale Kundenrechte.
Schnellstmöglich sollen zusätzliche Stellen für die Polizei geschaffen werden, sowohl auf Bundesebene als auch in den Ländern. Zudem soll es eine bundesweit einheitliche Abwehr von Gefahren und Angriffen aus dem Internet geben. Den Datenschutz bei der Polizei will man verbessern, den Kampf gegen terroristische Gefahren zentraler organisieren. Behörden-Kompetenzen sollen aber auf Länder- und Bundesebene weiter existieren - allerdings besser abgestimmt. Die Kontrollen an den EU-Außengrenzen will man verbessern und an Kriminalitätsschwerpunkten Videoüberwachungen anordnen können dürfen.
Alle großen Streitthemen werden ausgeklammert. Die von der FDP in Frage gestellten Russland-Sanktionen kommen auf den zweieinhalb Seiten gar nicht vor, über die künftige Höhe der Verteidigungsausgaben, ein von Grünen und FDP gefordertes Rüstungsexportgesetz und die von der Union geplante Anschaffung von Kampfdrohnen wollen die Unterhändler zunächst noch vertieft diskutieren. Das gilt auch für eine mögliche Verlängerung, Weiterentwicklung oder Beendigung laufender Mandate für Bundeswehreinsätze. Auch der Streit über den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland oder eine Unterzeichnung des Uno-Atomwaffen-Verbotsvertrags bleibt ausgeklammert.
Familien sollen finanziell entlastet und Leistungen für sie unbürokratischer gehandhabt werden Kinderarmut will man besonders bekämpfen. Damit Väter und Mütter Beruf und Familie besser vereinbaren können, sollen flexible und qualitativ hochwertige Betreuungsangebote in Krippen und Kitas sowie für Grundschulkinder gefördert werden. Über die von der CSU verlangte Anerkennung des dritten Erziehungsjahres in der Mütterrente will man in den weiteren Verhandlungen sprechen.
Die vier Parteien bekennen sich zur Tarifpartnerschaft, die ausdrücklich als Stärke der Wirtschaft bezeichnet wird, sowie zum Bürokratieabbau. Spitzentechnologien sollen ausgebaut werden - besonders genannt wird dabei die Erforschung und der Bau von Energiespeichermedien, die für die Mobilität und Stromversorgung aus erneuerbaren Energien wichtig sind. Strittig bleibt, wie genau Gründermodelle erleichtert und welche klimaschädlichen Subventionen abgebaut werden könnten. Auch die Frage des Kartellrechts und der Ministererlaubnis soll in der nächsten Sondierungsrunde geklärt werden. Offen sind auch die Förderung von Frauen in Führungspositionen und die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle.
Eine Basis für Jamaika? Dass man davon noch weit entfernt ist, konnte auch der demonstrative Optimismus Merkels sowie von weiteren CDU-Spitzenvertretern wie Parteivize Julia Klöckner am Freitag nicht überdecken: Von den zwölf vereinbarten konnten sich die Jamaika-Sondierer bislang nur bei zehn Themenblöcken so weit verständigen, dass man wenigstens ein gemeinsames Papier veröffentlichte.
Dabei bedeutet die Existenz eines solchen mitunter in tagelangem Ringen in unterschiedlichen Gruppen entstandenen Schriftstücks nicht etwa, dass man sich in dem Bereich einig ist. Teilweise werden - das Europa-Papier ist dafür ein besonders gutes Beispiel - nur einige prosaische Sätze vorangestellt, denen dann zig strittige Punkte folgen.
Bei zwei Bereichen (Familie und Außen/Verteidigung) allerdings gelang das erst auf den letzten Drücker bis Freitagnachmittag, bei Wirtschaft/Verkehr gibt es ein Papier nur zu Ersterem. Und bei den Themenblöcken Klima und Migration bekamen sich die Parteien so in die Haare, dass man die Gespräche nicht einmal auf Wiedervorlage setzte und sie ganz ans Ende der Sondierungen vertagte.
In den verbleibenden knapp zwei Wochen soll nun das Tempo erhöht werden, um bis dahin vorzeigbare Ergebnisse zu erzielen. Dafür wollen die Verhandlungsführer (Merkel, CSU-Chef Horst Seehofer, FDP-Chef Christian Lindner sowie die Grünen-Spitzenleute Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir) öfter als bisher in kleinster Runde verhandeln. Bereits am Wochenende wollen sie offenbar wieder zusammen kommen, ebenso am Montagabend.
Die erste Etappe sei geschafft - dieses Bild wurde am Freitag von Vertretern aller vier Parteien benutzt. Passender wäre wohl: Man hat sich ins erste Etappenziel geschleppt. Ab jetzt tickt die die Uhr.
Im Video: Ralf Neukirch über zwei Wochen Jamaika-Sondierungen
