Grünen-Gesundheitsexperte Dahmen »Es ist unehrlich, jetzt schon einen ›Freedom Day‹ zu versprechen«

Dahmen fordert die 2G-Regel bei einer Eskalation der epidemischen Lage
Foto: Ying Tang / NurPhoto / imago imagesDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
SPIEGEL: Die vierte Coronawelle baut sich auf, wie blicken Sie auf den Herbst?
Janosch Dahmen: Ich bin sehr besorgt. Die Impfkampagne stockt enorm, und der große Erwartungsdruck in Richtung Normalität hat dazu geführt, dass viele Schutzmaßnahmen nicht mehr wirkungsvoll durchgesetzt werden. Die Folge: Wir haben in den vergangenen Wochen eine Dynamik in der Infektionsausbreitung zugelassen, die vermeidbar gewesen wäre. Zudem zeigt sich, dass der Übertragungsschutz, den Geimpfte haben, sechs Monate nach der Impfung geringer wird. Ich erwarte im Herbst eine Verschärfung der Situation.
SPIEGEL: Trotzdem scheint Corona im Wahlkampf eine untergeordnete Rolle zu spielen. Warum?
Dahmen: Viele der wahlkämpfenden Politiker glauben zu Unrecht, dass die Wähler es nicht goutieren, wenn sie mit den Fakten der aktuellen Situation konfrontiert werden. Aber die Menschen merken, wenn sich die Politik vor einer Wahl vor unpopulären Entscheidungen drückt. Jens Spahn hat seine wöchentliche Pressekonferenz mit dem RKI-Chef im Wahlkampf eingestellt, obwohl die Lage jetzt wieder mehr politische Kommunikation erfordert. Die Bundesregierung tendiert derzeit dazu, den Ernst der Lage zu verschleiern, Maßnahmen zu verzögern und eine bessere Situation herbeizureden, als faktisch vorliegt. Niemand will den Menschen kurz vor der Wahl offen sagen: Es könnte noch mal schlimmer werden.
SPIEGEL: Das gilt aber auch für Ihre eigene Partei, die Grünen.
Dahmen: Gesundheitspolitiker aller Parteien haben es zurzeit schwer, mit Warnungen durchzudringen. Wir sollten uns aber für die Pandemiepolitik bewusst machen: Es geht um Menschenleben, nicht um Wählerstimmen. Ich nehme aber schon wahr, dass aus meiner Partei sehr dezidiert ein konsequenteres Vorgehen angemahnt wird. Im Triell hat Annalena Baerbock eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen nicht ausgeschlossen, Scholz und Laschet schon.
SPIEGEL: Ihr Parteichef Robert Habeck hat im SPIEGEL-Duell mit Markus Söder gerade noch betont, dass das Vorgehen der Regierung in der Coronakrise in der »Gesamtsumme« richtig gewesen sei.
Dahmen: Damit bezog sich Robert Habeck nicht auf die aktuelle Lage. Aber natürlich gab es auch Gemeinsamkeiten in der Einschätzung des Geschehens. Doch bei den Konsequenzen, die daraus gezogen werden, zeigen sich die politischen Unterschiede. Das Krisenmanagement der Bundesregierung ist absolut nicht ausreichend.
SPIEGEL: Was meinen Sie?
Dahmen: Die Bundesregierung möchte weg von einer bundesweit einheitlichen Herangehensweise. Dann gibt es mindestens 16 verschiedene Maßstäbe und Maßnahmen. Dabei wäre genau das Gegenteil erforderlich. Wir brauchen einheitliche, inzidenzunabhängige 3G-Maßnahmen in ganz Deutschland als Basis für die Dauer der epidemischen Lage. Dort, wo sie eskaliert, wie derzeit in Nordrhein-Westfalen, braucht es 2G-Maßnahmen. Übrigens: Auch bei 2G hat sich Baerbock dafür und Laschet dagegen ausgesprochen.
SPIEGEL: Halten Sie einen Lockdown für Ungeimpfte für möglich?
Dahmen: Die 2G-Regel ist so etwas Ähnliches. Es muss natürlich Ausnahmen für Kinder geben und für Menschen, die sich aus zwingenden medizinischen Gründen nicht impfen lassen können. Aber im Kern geht es um Schutzmaßnahmen, die erst dann ergriffen werden, wenn Menschen andere gefährden. Die Gefahr, die von Ungeimpften ausgeht, ist größer als die Gefahr, die von Geimpften ausgeht. Deswegen ist es konsequent, bei Ungeimpften mit Schutzmaßnahmen anzusetzen.
SPIEGEL: Wer soll das in der Praxis kontrollieren?
Dahmen: Es geht in erster Linie um den Zugang zu Restaurants, Bars, Kinos, Theater, aber auch beim Reisen. Dort wird ohnehin kontrolliert, der Umstieg von 2G auf 3G wäre dort mit der Corona-Warn-App relativ unproblematisch. Wir sollten bei der Frage der Kontrolle aber auch pragmatisch sein: Es kann doch nicht sein, dass die Regierung die 3G-Regel für Züge nicht einführen will, weil es angeblich dort nicht kontrolliert werden kann.
SPIEGEL: Ein großes Versprechen der Politik lautet derzeit, vollständig Geimpfte müssten keine Einschränkungen mehr befürchten. Ist das nicht auch dem Wahlkampf geschuldet?
Dahmen: Angesichts der hohen Mutationsquoten kann man das nicht zu 100 Prozent versprechen. Wir können neue, gefährlichere Mutationen nicht ausschließen. Ausgehend von der aktuellen Situation lässt sich aber sagen, dass von Geimpften eine geringere Gefahr ausgeht. Deshalb sind neue Einschränkungen für Geimpfte falsch, während sie für Ungeimpfte mitunter noch aufrechterhalten oder wie aktuell neuerdings ergriffen werden müssen.
SPIEGEL: Ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock rechnet im Herbst nicht mit Einschränkungen, der Virologe Christian Drosten schon. Woher diese Diskrepanz?
Dahmen: Der Punkt ist doch: Wir haben es noch in der Hand, wie schlimm die vierte Welle wird. In den verbleibenden vier Wochen bis zum Herbst müssen aber vor allem beim Impftempo Fortschritte gemacht werden. Ich habe wegen der trägen Bewerbung der Impfung durch die Bundesregierung daran große Zweifel.
SPIEGEL: In Deutschland stagniert das Impfniveau. Warum macht die Politik nicht mehr Druck?
Dahmen: Die Bundesregierung ist in einer Phase der Ratlosigkeit angekommen. Sie hat geglaubt, allein durch die Ankündigung des Endes kostenloser Tests so viel Druck aufbauen zu können, dass Ungeimpfte sich zur Impfung entscheiden. Ich bin als Arzt davon nicht überzeugt. Gerade in medizinischen Fragen sind Menschen hochgradig irrational. Die Ärmel-hoch-Kampagne war eingangs gut, weil sie Leute mobilisiert hat, die eine grundsätzliche Offenheit gegenüber Impfungen haben. Jetzt aber müssen wir überzeugen, statt nur zu mobilisieren. Das leistet die Kampagne nicht.
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
Dahmen: Die Arztpraxen haben das Problem, dass sie Menschen, die aus anderen medizinischen Anlässen in ihre Praxis kommen, nicht sofort impfen können, weil die Impfdosen weiterhin nur in Sechserfläschchen ausgegeben werden. Sie investieren Zeit in die Aufklärung und überzeugen die Leute auch oft von der Impfung, können aber nicht sagen: Nehmen Sie kurz draußen Platz, dann impfen wir sie direkt. Sie müssen die Menschen ein oder zwei Wochen später wieder einbestellen. Bis dahin ist dieser Faden des Vertrauens wieder verloren gegangen. Wir müssen dafür sorgen, dass Apotheken den Impfstoff auch als Einzeldosen abfüllen.
SPIEGEL: Sollte die Gesellschaft Rücksicht nehmen, bis auch die Jüngsten eine Chance hatten, sich impfen zu lassen?
Dahmen: Ja. Es ist eine große Ungerechtigkeit, dass Familien sich während der gesamten Pandemie so stark einschränken mussten. Jetzt ist die Stimmung gekippt, und es steht die Botschaft im Vordergrund, Kinder werden nicht so schlimm krank. Auch wenn wegen hoher Inzidenzen in den jungen Altersgruppen und unzureichender Schutzkonzepte in den Schulen eine Exposition wahrscheinlich ist. Der Schutz in den Schulen reicht nicht. Ich sehe darin eine echte Gefahr.
SPIEGEL: Welche?
Dahmen: Bis zu fünf Prozent der Kinder haben längerfristig, also länger als vier Wochen, Krankheitssymptome. Das ist eine brutale Belastung für die Familien. Selbst wenn das Kind wieder ganz gesund wird und keine Langzeitfolgen hat. Zudem müssen 0,1 bis 0,3 Prozent der Kinder im Krankenhaus behandelt werden. Wir haben keine Engstelle bei den Kinder-Intensivbetten, weil Kinder seltener auf die Intensivstation müssen. Unsere Engstelle ist bei den normalen Kinder-Krankenbetten. Weil sie unlukrativ sind, sind sie total unterfinanziert. Schon ein kleiner Anstieg von Kindern, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, bringt unser Gesundheitssystem im Bereich der Pädiatrie an die Belastungsgrenze. Auch wenn alle Kinder wieder vollständig gesund werden.
SPIEGEL: Wird diese Pandemie denn jemals enden?
Dahmen: Ich bin überzeugt davon, dass sie enden wird. Das Virus wird es noch geben, aber es wird auch wieder eine Normalität wie vor der Pandemie geben. Aber durch die Zögerlichkeit, über die wir gesprochen haben, gehe ich davon aus, dass das in Deutschland erst im kommenden Frühjahr der Fall sein wird. Viel früher halte ich für unwahrscheinlich, und es ist unehrlich, jetzt schon einen »Freedom Day« zu versprechen.